
Als Bundespräsident hatte Horst Köhler Beliebtheitswerte wie kaum ein anderer Politiker. Er begriff sein Amt als eine Ehre, der er gerecht werden wollte – bis zu seinem plötzlichen Rücktritt. Einer besonderen Leidenschaft blieb er bis zuletzt treu.
Als er vor einigen Jahren wieder einmal gefragt wurde, warum er nicht mehr auftrete, die Stimme erhebe und sich einmische, da antwortete Horst Köhler: „Ich muss ja nicht im Vordergrund stehen.“ Dabei hätte er durchaus zu vielen der drängendsten Themen der Zeit etwas zu sagen, zu Migration, zu Flucht, Globalisierung, zu Afrika ohnehin. Er musste es nicht als ehemaliger Bundespräsident. Er hatte ja so noch genug zu tun, auch mit weit über 70 Jahren. Als UN-Sonderbeauftragter für den Westsahara-Konflikt, als Ratgeber, Unterstützer, hier und in vielen afrikanischen Ländern.
Horst Köhler mochte diesen „Vordergrund“ nicht mehr. Er war vorsichtig geworden. Meistens äußerte er sich lieber nicht. Das hatte viel mit einem Moment und einer Äußerung zu tun, die spätestens heute, 14 Jahre später, angesichts der geopolitischen Fakten- und Bedrohungslage nicht anders als weitsichtig erscheinen kann. Und ehrlich.
Der Moment, der so oft mit dem Bundespräsidenten Horst Köhler verbunden wird, war sein letzter in dieser Funktion. 2009 hatte man ihm für eine zweite Amtszeit gewählt. Am 31. Mai 2010 war sie aber schon zu Ende: Das Staatsoberhaupt zurück, das war so noch nie passiert in der Bundesrepublik. So plötzlich, dass selbst Kanzlerin Angela Merkel damals vollkommen unvorbereitet war. Über die Gründe ist oft und ausdauernd spekuliert worden. Klar ist allerdings, es hatte mit einer Bemerkung von Horst Köhler nach einem Besuch der Bundeswehrtruppen in Afghanistan zu tun.
Der Bundespräsident gab damals noch im Flugzeug nach Hause ein Interview und sagte: Deutschland, mit seiner Orientierung und Abhängigkeit vom Außenhandel, müsse seine Handelswege „im Zweifel und im Notfall auch militärisch schützen“. Die Debatte, die sich daran entzündete, war überraschend laut und die Kritik sehr harsch, auch persönlich gegen den Präsidenten.
Der Grüne Jürgen Trittin warf ihm vor, sich mit seinen Worten nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes zu befinden. Dieser Vorwurf, das sagte Horst Köhler damals bei seinem Rücktritt, lasse den notwendigen Respekt vor dem Amt vermissen. Und er verließ es.
Die Spekulationen über die Gründe gingen weiter. Und natürlich stimmte auch, dass er in der Woche zuvor zum Unterschreiben eines Gesetzes gedrängt worden war und es Konflikte zwischen Mitarbeitern im Präsidialamt gab. Aber wer Horst Köhler kannte, wusste, wie zentral ihn dieser Vorwurf traf, treffen musste.
Ihn, das Flüchtlingskind, geboren 1943 im polnischen Skierbieszów, das mit seiner Familie gen Westen geflohen war, in vollen Aufnahmelagern gelebt hatte; sich durchkämpfte, Abitur machte, studierte, als Erster seiner Familie. Der im Wirtschaftsministerium seine Karriere begann und später im Finanzministerium bis zum Staatssekretär aufstieg – als der er die Maastrichter Verträge mitverhandelte und ebenfalls die Wiedervereinigung.
Horst Köhler verstand den politischen Betrieb gut, aber er war lange keiner seiner Protagonisten gewesen. Er begriff das hohe Amt als eine Ehre, der er gerecht werden wollte, mit absoluter Pflichterfüllung. Wenn er Gesetze unterschreiben sollte, so erzählte er einmal, habe er wirklich vorgehabt, sie zunächst Satz für Satz zu lesen. Das sei ja die Aufgabe und Verantwortung: die Verfassungsprüfung.
Er wusste selbst, das war ein Stück weit naiv. Aber es war, was er gewohnt war: an der Sache zu arbeiten. So hatte er es auch bei seiner Aufgabe zuvor gehalten, die ihm wohl ähnlich wichtig gewesen war wie dann das Staatsamt: Als Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF) hatte er mit Reisen begonnen nach Afrika, das ihm zu einem Lebensthema wurde.
Seine Umgebung musste damit klarkommen, dass er auch als IWF-Chef manchmal Dinge sagte, die für einen IWF-Chef eher überraschend waren. Dass der Westen weniger heuchlerisch auftreten müsse, zum Beispiel, und die reichen Länder zu egoistisch seien. Das kam nicht überall zwingend gut an.
In Horst Köhlers sonst eher sachlichen Büro in Berlins Mitte gab es viele Andenken an Afrikareisen. Direkt neben seinem Schreibtisch stand eine Massai-Figur, schwarz, massiv, mit einem Speer im Arm, aber keinem Schild. Einmal, während der Coronakrise noch, wurde der Altbundespräsident gefragt, was diese aktuelle Bedrohung ihm bedeute, und er sagte: „Wie verletzlich wir sind.“
Horst Köhler wusste um die Verletzlichkeit der Gesellschaft, er wusste auch um die eigene und konnte sich dennoch nicht immer schützen; er wusste auch um die Verletzlichkeit der anderen, vielleicht war es das, was ihn so offen für Begegnungen machte. Er konnte ausdauernd zuhören. Er konnte Fragen stellen. Er wollte verstehen, einen afrikanischen Diktator genauso wie einen bayrischen Bauern.
Als Bundespräsident hatte er Beliebtheitswerte wie kaum ein anderer Politiker. Er mochte es, durchs Land zu reisen und seinen Menschen zu begegnen. Wenn er Volkspräsident genannt wurde, war das nicht immer nett gemeint, aber es stimmte: Er war ein Staatsoberhaupt für die Menschen.
Er tat sich schwer, eine Rolle zu spielen
Horst Köhler war ein Politiker, wie ihn sich sehr viele wünschen und wie ihn der Betrieb kaum zulässt. Der zu oft exakt das sagte, was er dachte. Der sich schwertat, eine Rolle zu spielen. Der lieber hoffnungsvoll als zynisch war. Am frühen Samstagmorgen ist Horst Köhler im Alter von 81 Jahren nach kurzer schwerer Krankheit gestorben.