
In unserer ersten WG hatten wir eine Biotonne, die wir ein Dreivierteljahr lang nicht bewegt hatten. Als unsere Eltern sich zum Besuch ankündigten, spielten wir FIFA darum, wer sie rausbringen müsste. Timo verlor, meinte aber, er werde sicher keine Schutzkleidung tragen. Anschließend musste er sich auf dem Weg raus mehrfach übergeben. Ich würde also sagen, dass ich, was verderbliche Lebensmittel angeht, durchaus ein Experte bin.
Da ich über die Feiertage freihatte und auch das Haus nicht verlassen musste, gab mir das genügend Zeit, endlich mein neues, hochriskantes Rezept für „ewige Suppe“ auszuprobieren. Das Rezept hatte ich aus einem dieser Beilagenmagazine, die einem Qualitätsjournalismus und die zehn besten Herbstrezepte ans Herz legen. Es klang direkt aufregend: Man wirft praktisch alles, was man hat und was so beim Kochen übrig bleibt, in einen köchelnden Topf – und so entsteht nach und nach eine Suppe. Ein kleines Bangkoker Restaurant, das „Wattana Panich“, kocht so angeblich seit mittlerweile fast 50 Jahren dieselbe Suppe. Zwar wird nachts die Brühe abgelassen und der Topf gespült, was die Frage aufwirft, ob eine 40 Jahre alte Suppe noch eine 40 Jahre alte Suppe ist, wenn man ständig alle Zutaten erneuert, aber nun gut. Im Prinzip ist es ein Experiment an ewigem Leben, diese „ewige Suppe“, was mich zu dem Punkt führt, ob das Rezept aus dem Mittelalter stammen könnte.
Das bringt eine gewisse Unberechenbarkeit mit sich
Ich bin kein Fachmann, würde aber sagen, da ziehen Historiker sowie Ernährungsexperten gleichermaßen scharf die Luft ein, denn: Einerseits wären da die hygienischen Bedingungen des Mittelalters; andererseits hätten die nötigen Ausgaben für Brennholz die Durchschnittsmittelalterfamilie schnell an den Rand der Notwendigkeit geführt, die sechs eigenen Kinder allein im Wald auszusetzen. Es ist also davon auszugehen, dass, wie jedes Konzept, auch dieses im Laufe der Jahrhunderte einer gewissen romantischen Verklärung unterworfen worden ist. Die „ewige Suppe“ oder auch Soupstarter hat aber tatsächlich historische Wurzeln, in einer viel pragmatischeren Weise, als es gern dargestellt wird: Vermutlich war sie ursprünglich eine Art „Basis“, der ständig frische Zutaten hinzugefügt wurden, ohne dass man gleich die ganze Suppe wegwerfen musste.
Ich mag die Idee, weil das Rezept eine gewisse Unberechenbarkeit mit sich bringt. Was passiert hinsichtlich einer potentiellen, veritablen und möglicherweise gar tödlichen Lebensmittelvergiftung, die man nicht kommen sieht, als handle es sich um eine Moritat? Man ahnt praktisch schon das Grubenunglück, während man weiter auf einen guten Ausgang der Geschichte hofft.
Ewig kochen? Nicht bei den Strompreisen!
Vielleicht, dachte ich, während ich Frühlingszwiebeln von Sand und Knollensellerie von Strunk befreite, war es gar nicht so sehr die Suppe, die mich reizte. Vielleicht war es mehr die Idee, durch slow cooking und ein bisschen unorthodoxe Küche etwas vollständig Unerwartetes zu schaffen. Zunächst also setzte ich drei bis fünf Liter Wasser auf, das war der leichteste Teil des Rezepts, wobei die Markierungen an meinem Messerbecher längst nicht mehr eindeutig waren. Dann gab ich Petersilie hinzu, viel Sellerie, Möhren, Zwiebel, Frühlingszwiebel und etwas Lauch sowie einen wirklich groben Esslöffel Gemüsebrühe. Dann tat ich den Deckel drauf und stellte den Herd auf neun. Da ich keinen Induktionsherd besitze, brauchte es eine gefühlte Stunde, bis alles kochte, wobei ich, als es dann kochte, jeden Moment die Explosion erwartete. Ein sehr gutes Gefühl.
Ich beschloss, diese Suppe ewig zu kochen, bis ich die Strompreise googelte. Nach etwa zwei Stunden probierte ich zum ersten Mal. Köstlich! Um meine Motivation auf Dauer hochzuhalten, erzählte ich allen Freundinnen und Freunden davon, als würde ich mir hier gleich einen Michelinstern erkochen.

Ich gab etwas Hähnchenreste vom Feiertagsraclette dazu und servierte alles, rund 30 Minuten später, meiner Freundin – einer Erkältungsexpertin, die Hühnersuppe auf höchstem Niveau zubereitet. „Köstlich“, befand auch sie. Ich war stolz, mir brannten die Wangen. Und ich fragte mich: Wenn ich sie jeden Tag weiter aufsetze, wird sie dann wirklich immer, immer besser? War ich da einer Sache auf die Schliche gekommen, die meine Großmutter vielleicht noch beherrscht hatte? Ein Wissen, das in der Menschheitsgeschichte von Generation zu Generation weitervererbt worden und das jetzt, mit den Millennials, einfach verloren gegangen war?
Das Wissen um die „ewige Suppe“? Kraftquelle und Inspiration? Von Menschen in grauer Vorzeit zubereitet, in Syrien, Palästina, auf Europas zugigen Burgen für erkältete Herrscher, die im Sterben lagen? Waren Kriege geführt worden für die richtige Suppe? Ich googelte Bücher mit dem Titel „Die Ewige Suppe und der 30-jährige Krieg“, fand aber nichts. Was nichts heißen musste: Die wahren Geheimnisse liegen naturgemäß nie an der Oberfläche. Handelte es sich bei der Suppe gar um den Heiligen Gral? War es nicht verblüffend, dass andere Suppen Jahrhunderte später noch oder wieder beliebt waren? Ramen, Miso? Tom Kha Gai? Soljanka?
Kann aus der Hühnersuppe eine Thai-Suppe werden?
Da mir das Kochergebnis nun nach vollen zwei Tagen schon sehr am Herzen lag, behandelte ich meine Suppe mit größtmöglicher Achtsamkeit. Abends entnahm ich die Brühe und reinigte den Topf. Dann stellte ich alles in einem sauberen Topf auf den Balkon, wo es praktisch über Nacht zu einem Block gefror. Ruhe unter Frost, meine liebe, kleine Suppe.
Vor dem Schlafengehen googelte ich noch verschiedene Suppenrezepte und verlor mich auf vielen Blogs schnell im Sog des sogenannten Teilaspektewissens. Da man praktisch alle asiatischen Lebensmittel in Originalsprache schlecht googeln und noch schlechter bestellen kann, verstand ich von meinen Lieblingssuppen oft nur: „goat stew in Chinese herbs and beef noodle soup“, „lemongrass“ und „local chillies“. Ich dachte aber: Hey, vielleicht kann ich meine Oma-Hühnersuppe mit wenigen Handgriffen und dem, was ich noch im Kühlschrank habe – Brokkoli, Zitronengraspaste und Korianderreste – schnell in eine thailändische Suppe verwandeln, damit es auf Dauer nicht zu eintönig wird?
Ich googelte, ob sich jemand schon einmal ein bis zwei Wochen nur von Hühnersuppe ernährt hatte, fand aber nichts. Stattdessen starrte ich auf meinen eigenen Sucheintrag, zu dem keine Ergebnisse vorlagen, und dachte: Alles, was man mit großem Ernst verfolgt, macht einen doch irgendwann absonderlich. Nachdem ich meinen gesamten Suchverlauf angeschaut hatte, fand ich, dass es nur noch wenige Tage brauchte, bis ich werden würde wie diese Leute, die in ihrer Freizeit Oberstromleitungen fotografierten.
Nach vier Tagen wusch ich den Topf abends nicht aus
Am nächsten Morgen, sehr früh wie ein chinesischer Wanderarbeiter, fügte ich Zitronengras und Brokkoli hinzu, Limettenblätter und asiatische Suppennudeln. Es köchelte einen Vormittag lang, während ich arbeitete, und schmeckte dann tatsächlich ausgezeichnet nach Thai-Suppe! Wie praktisch!
Doch wie bei allem, was ausgesprochen gut funktionierte, wurde ich mit der Zeit nachlässig. Nach vier Tagen wusch ich den Topf abends ausnahmsweise nicht und beschloss, dass es wegen der Stromkosten ausreichen müsste, sie dreimal täglich mehrere Minuten sprudelnd aufzukochen, um alle Keime abzutöten. Das stellte sich als fatale Fehleinschätzung heraus. Spätabends übergab ich meine Suppe dem Balkon, und meine Suppe so: hold my beer!
Am nächsten Morgen fand ich sie zu einer unansehnlichen Masse vergoren. Die Nudeln hatten sich komplett als Gelee aufgeschwemmt, das der Suppe die Konsistenz von Grießbrei bescherte. Sie roch säuerlich, wobei ich nicht wusste, ob das Zitronengras oder Limetten waren – oder nicht. Da ich fortgeschrittenes Leben erwarten musste wie damals in der Biotonne, übergab ich es sicherheitshalber der Toilette. Ich betrachtete noch einmal kurz die Reste, wie sie im Kreis zirkulierten, und dachte dabei an ewiges Leben, aber nur kurz. Ich spülte noch zweimal ab, bis auch die letzten Reste verschwunden waren. Es blieben: ein dünner Rand, wo der Wasserspiegel die Keramik berührte, und die Erkenntnis, dass vielleicht nichts von Dauer ist. Dass man dankbar sein sollte, dass man sich über den Weg laufen durfte, die Suppe und ich. Und dass sie, als sie noch eine Suppe war, eine wirklich gute Suppe gewesen ist.
So möchte ich sie in Erinnerung halten.
Und vielleicht ist es so, dass man die Dinge nicht für selbstverständlich halten sollte, sodass man am Ende nachlässig wird. Sondern jeden Tag so nimmt, als sei es der letzte. Nichts ist von Dauer. Wie in der Suppe, so im Leben, schätze ich. Aber auch da kann ich mich natürlich wieder irren.