
Man hat in den vergangenen Jahren niemals ganz verstanden, wie das genau zusammenging: Auf der einen Seite schlossen sich die weiblichen US-Celebritys mit schmetternden Fanfaren der „Me Too“-Bewegung an, erzählten eigene Geschichten von sexuellem Missbrauch, Objektifizierung und Belästigung und verbaten sich ein für alle Mal, wie hirnlose Pin-ups behandelt zu werden. Auf der anderen Seite wurden sie auf dem Red Carpet immer nackter. Beyoncé bei der Met Gala 2014, Sabrina Carpenter bei der Oscar-Party 2023, Miley Cyrus bei den Grammys 2024 (um nur ein paar random Beispiele zu nennen): Da war weiß Gott nicht mehr viel Stoff erkennbar, der die Trennschärfe zum Pin-up noch hätte herstellen können. Flankierend dazu wurde einem auf Social Media und in kompliziert zu lesenden Essays zeitgenössischer Feministinnen erklärt, wie man diese Auftritte zu interpretieren hatte, nämlich als radikale Akte weiblicher Selbstermächtigung.
Wer weiß, dachte man. Vielleicht war man im Lauf dieses doch schon länger andauernden Frauenlebens tatsächlich aus dem Zeitgeist rausgealtert und raffte es einfach nicht mehr, dass aufgespritzte Lippen, hochgequetschte Brüste unter ein paar Fitzelchen Spitze und Pailletten inzwischen ein feministisches Statement waren. Kann ja alles sein, nicht? Im Hinterkopf natürlich trotzdem der altbackene Gedanke, was auf Social Media und bei den zeitgenössischen Feministinnen wohl los wäre, wenn das letzte Fitzelchen Textil noch fiele, die Kaiserin also vor aller Augen nackt dastünde. Und jetzt, bei den Grammy Awards 2025, ist es tatsächlich passiert.
Die in Ermangelung belastbarer Qualifikationen in diesen Tagen wahlweise „Model“ oder „Designerin“ genannte Bianca Censori, Ehefrau des einst wirklich belastbar guten Rappers, inzwischen nur noch egalen Antisemiten und Rassisten Kanye West, war auf dem Red Carpet der Grammys gerade eine Minute lang nackt. Der Ordnung halber: Bianca Censori trug, als sie unter dem gleichgültigen Blick von Kanye den Teddymantel an sich runtergleiten ließ, nichts Weiteres am Körper als einen Hauch nudefarbenes, durchsichtiges Nylon, darunter nicht mal ein Höschen.
Also gut. Kann man natürlich immer machen. War dann ja auch reinstes Klick- und Follower-Gold. Wie aber klang die öffentliche Orchestrierung, sprich: das Netz? Raunte, applaudierte, OMGte es, japste es glücklich auf? Begriff es die nackte Bianca Censori als den final noch ausstehenden singulären Akt, mit dem die weibliche Selbstermächtigung als vollzogen gelten kann?
Und nun wird es geradezu heiter. In einem raren Kollektivreflex sind sich die digitalen Bemeiner*innen in dieser Sache nämlich endlich einmal einig. Feministisches Statement? Bewahre. Vielmehr: Vollsklavin! Bianca Censori nämlich, dem schrecklichen Kanye hilflos ausgeliefert und von ihm grob manipuliert, hat bei den Grammys gegen ihren Willen blankziehen müssen, schaut euch bloß mal ihr Gesicht an, zum Heulen, seine Ex Kim Kardashian kriegt bis heute Panikattacken und Hautausschlag, wenn sie seinen Namen hört!
Interessant. Es sind offenbar wirklich nur ein paar Quadratzentimeter Stoff, die eine feministische Ikone von einem Opfer trennen. Aber wer weiß. Man urteilt nicht, man notiert hier ja nur.