Wie Alessandro Michele mit Valentino die Haute Couture rettet

Die Vergangenheit tritt auf. Eine 85 Jahre alte Schneiderin erkennt in einer Kollektion die Fünfzigerjahre wieder. Sie muss es wissen. Sie war dabei. Backstage kämpft sich eine Einundachtzigjährige durch die Massen, um der Designerin ihre Fragen zu stellen. Und über einen Laufsteg tapst ein 90 Jahre alter Mode­macher, um im Applaus zu baden.

Alles Zufall? Oder gab es bei den Haute-Couture-Schauen diese ­Woche ein Muster zu entdecken? Stehen Anita Briey, Modekritikerin Suzy Menkes und Giorgio Armani nur für sich selbst? Oder sind sie Symptome eines Alterungsprozesses, der alles ergreift, auch die Mode in Paris?

Anita Briey kommt immerhin jugendlich engagiert aus dem Grand Palais. „Es war wunderschön“, sagt die Näherin über die Chanel-Kollektion, „magnifique“. „Da waren so viele Anspielungen auf Coco Chanel zu sehen.“ 1955 hatte sie als Lehrmädchen bei Coco Chanel angefangen, die gerade ihre zweite Karriere in Paris begann. Und nun entspricht die Couture-Kollektion von Chanel für Frühjahr und Sommer 2025 ihrer Vorstellung von dieser Marke. Nicht dass sie darüber ins Träumen geriete: Bevor sie aus dem Grand Palais spaziert, greift sie sich noch schnell eines der Geschenktütchen, in denen ein teures Parfum steckt.

Sind die Zeiten unsicher, hält man sich ans Bewährte

Anita Brieys Lob ist trügerisch: Welches Modehaus möchte schon Mode aus den Fünfzigerjahren zeigen? Aber es ist auch eine typische Diagnose bei der hohen Schneiderkunst. Wenn die Zeiten unsicher sind, hält man sich ans Bewährte.

Die Aussichten sind trübe, wegen Konsumflaute und Krisenstimmung. Sogar der Konzernumsatz des größten Luxusriesen, LVMH, ist 2024 leicht gesunken, auf 84,7 Milliarden Euro. Gerade die Modemarken, unter ihnen Dior, Givenchy und Celine, stehen unter Druck. In solchen Zeiten wollen Manager und Designer keine falschen Entscheidungen treffen, da wagt man weniger, da besinnt man sich auf alte Erfolgsfaktoren. Ob die noch helfen?

Trägt noch die Ursprungswuschelfrisur: Inès de la Fressange bei Chanel am Dienstag
Trägt noch die Ursprungswuschelfrisur: Inès de la Fressange bei Chanel am DienstagReuters

Bei Chanel wiesen selbst die leicht strubbeligen Haare der Models in die Vergangenheit. Inès de la Fressange, von 1983 bis 1989 das Gesicht der Marke, saß als Erfolgsfaktor in der ersten Reihe. So konnte man bei der Schau die Frisuren immer wieder mit der wunderbar verwuschelten Frisur des Ursprungs­models vergleichen.

Immerhin erweist sich die Marke mit der Mini-Länge als überaus aktuell. Wenn die traditionellen Kostüme über die Knie reichten, wäre das wirklich wie in den Fünfzigern. Die Miniröcke aber sehen frisch aus – am schönsten bei der britischen Sängerin Flowerovlove, die mit inzwischen selten gewordenen Plateau-High-Heels ihre Beine optisch ins Unendliche verlängerte.

Wie geht es bei Dior weiter?

Auch für den bauchfreien Ansatz fand sich eine Ideal­figur: Die südkoreanische Sängerin Jennie (Blackpink) schmückte sich mit einem ­Feder-Cape. Dankenswerterweise trug sie, anders als Kylie Jenner, zum Bauchfrei- nicht auch noch Beinfrei-Look, sondern einfach eine lange schwarze Hose.

Bei Chanel weiß man, wohin die Reise geht. Nach dem Ausscheiden von Virginie Viard entwirft noch das Designteam die Kollektionen, aber beim Prêt-à-Porter im Herbst wird der neue Designer Matthieu Blazy eine klare Linie in die ­Mode bringen.

Wenigstens die Mini-Länge wirkt frisch: die Haute-Couture-Frühling/Sommer-Kollektion 2025 von Chanel
Wenigstens die Mini-Länge wirkt frisch: die Haute-Couture-Frühling/Sommer-Kollektion 2025 von ChanelReuters

Bei Dior hingegen, der zweiten großen Marke der Haute Couture, möchte man doch gerne wissen, was die zukünftige Strategie ist. Gegen die Kollektion von Maria Grazia Chiuri ist nichts zu sagen, im Gegenteil: Sie ist leicht wie selten, mit ­feinen Stickereien, Tüllhöschen, weiten Krinolinen, die an Yves Saint Laurents Trapèze-Kollektion von 1958 für die Marke erinnern sollen.

Die Stimmung backstage war entspannt, die Hintergrund-Kunstwerke der Inderin Rithika Merchant phänomenal. Suzy Menkes, gebeugt vom Alter, kämpfte sich bis zur Designerin durch und plauderte unterwegs mit Hutmacher Stephen Jones, auch schon fast 70, der dieser Kollektion mit einem Irokesenschmuck aus Blumen, Federn und Tüll die Krone aufsetzte.

So leicht wie selten: Diors Haute-Couture-Kollektion für Frühling/Sommer 2025
So leicht wie selten: Diors Haute-Couture-Kollektion für Frühling/Sommer 2025dpa

Aber über dem Schauenzelt im Garten des Musée Rodin hing doch die Frage, wie es weitergeht. Die beiden New Yorker Proenza-Schouler-Designer steuern ihr Ziel Loewe an. Alle reden darüber, dass der bisherige Loewe-Designer Jonathan Anderson zu Dior geht – beide Modemarken gehören zum LVMH-Konzern, da ist ein Wechsel leicht.

Alessandro Michele hat eine Wahnsinns-Revue erschaffen

Maria Grazia Chiuri, so heißt es, will dann wieder nach Hause, nach Rom: Bei Fendi, noch einer LVMH-Marke, hatte sie ihre Karriere einst begonnen. Und wie es der Zufall will, verlässt Designer Kim Jones die römische Marke. Weil bei Fendi in diesem Jahr das hundertjährige Jubiläum ansteht, wäre es ein Scoop, wenn Maria Grazia Chiuri dorthin zurückkehren würde – womöglich gemeinsam mit Pierpaolo Piccioli, mit dem sie in der Accessoire-Abteilung bei Fendi begann und mit dem sie dann später erfolgreich bei Valentino zusammenarbeitete.

Mit seiner ersten Couture-Kollektion für Valentino hat Alessandro Michele einen unglaublichen Bilderbogen erschaffen.
Mit seiner ersten Couture-Kollektion für Valentino hat Alessandro Michele einen unglaublichen Bilderbogen erschaffen.dpa

Noch einer saß Ende des vergangenen Jahrhunderts mit den beiden bei Fendi: Alessandro Michele. Und wenn diese Couture-Woche ratlos wirkte, weil natürlich auch ein 90 Jahre alter Giorgio Armani seine Codes durchdeklinierte, dann ist immerhin bei dem neuen Valentino-Designer große Entschlossenheit zu spüren.

Mit seiner ersten Couture-Kollektion für das Haus erschafft Michele einen unglaublichen Bilderbogen, mit unendlichen Seidenschichten, Stufenvolants, Stickereien, Rüschenkragen, Spitzenjabots, Seidenschleifen, Federhüten. Von der Commedia dell’Arte bis zum Berlin der Zwanzigerjahre, von der spanischen Hoftracht des 17. Jahrhunderts bis zum Valentino der Siebzigerjahre ist alles dabei – eine Wahnsinns-Revue, geordnet nach Listen. Für Kleid 2 zum Beispiel beginnt die Liste mit diesen Assoziationen: „860 HOURS OF HANDWORK – LOIRE BODICE – BIRD – ELIZABETH – 1053 – HILDEGARD OF BINGEN – MINIATURE – PEAU DE SOIE – MYSTICISM“.

So viele historische Referenzen hat wohl noch nie ein Designer in einer Kollektion untergebracht. Und siehe da: Das Alte wirkt gar nicht so alt – wenn es nur neu gedacht wird.