Der Blick wandert durch den Kleiderschrank. Trotz meterweiser aneinandergereihter Hemden und Blazer, Röcke und Hosen, Pullover und Kleider findet sich nichts Passendes. Der Ruf nach Marie Kondos Aussortierungs-Anleitung liegt nahe oder zumindest die Einführung eines neuen Ordnungssystems – nach Farben, Kategorien oder Jahreszeiten. Doch warum kann eine der einfachsten Tätigkeiten so kompliziert sein, vor allem wenn ein offizieller Termin ansteht? Woher kommt dieses Gefühl, vor dem gefüllten Kleiderschrank zu stehen und nichts zum Anziehen zu haben?
Der Trugschluss-Blazer
Ein Blazer, und alles ist gut. So die Annahme. Dabei handelt es sich beim Blazer um ein modisches Phantom. Den typischen Blazer gibt es gar nicht. Seine Wirkung entsteht – wie die aller Kleidungsstücke – entlang eines facettenreichen Zusammenspiels aus Faktoren wie Material, Farbe und Schnitt. Aber auch die Haltung von Trägerinnen und Trägern ist entscheidend. Ich beobachte das öfter bei Career-Events, wo viele junge Menschen ihren Zugang zur Business-Welt suchen. Im Blazer wirken sie häufig angespannt. Besonders bei Frauen fällt es auf, was durchaus historisch bedingt ist.
Der Businessanzug als Standardkleidung des Geschäftsmannes entwickelte sich im Kometenschweif der Französischen Revolution, als sich das erstarkende Bürgertum durch selbst erarbeiteten Erfolg statt vererbten Adelsstatus profilierte. Eine eigenständige, fraglos gültige weibliche Geschäftskleidung entstand dabei allerdings nicht; Frauen blieben lange Zeit prestigereich schmückende Accessoires ihrer Gatten. Mit der weiblichen Emanzipation in beruflichen Positionen mussten sie sich modisch zwischen der Marginalisierung feminin besetzter Stile und der Kopie von Männerbekleidung verorten. Dabei können Schluppenblusen, Schlaghosen, ja sogar Strickjacken bei entsprechender Qualität und dem passenden Styling genauso offiziell wirken wie ein schlichter Blazer.
Nur Fähnchen im Schrank?
Qualität ist endlich – Quantität nicht, warnte bereits vor 100 Jahren der Soziologe Georg Simmel. Was in den Kinderschuhen der Industrialisierung noch eine Nischenerkenntnis war, beweist sich umso mehr in Zeiten massenhafter Produktion von Billigmode. Für Kleidung gilt dasselbe wie beim Kochen: Aus minderwertigen Zutaten entsteht kein überzeugendes Ergebnis. Die Mode funktioniert jedoch zunächst visuell. Der Fokus liegt auf dem Look, da tritt das Feeling oftmals in den Hintergrund.
Der Weg vom Anblick eines Kleidungsstücks in den sozialen Medien und Onlineshops bis zum ersten Tragen ist lang. Selbst hochpreisige Hersteller setzen daher zunehmend auf geringwertige Materialien, gekauft wird es auch so, obwohl die Haptik nachweislich das Befinden beeinflusst. Ob es dann auch gerne getragen wird, ist zu bezweifeln. Ich habe diese Wirkung vor einigen Jahren in einem Forschungsprojekt untersucht. Ich gab Probanden mit verbundenen Augen verschiedene Stoffe und konfektionierte Oberteile zu spüren, darunter Polyestersatin und Seidensatin. Die Testpersonen hatten nicht nur mehr über die besseren Materialien zu sagen, die Sprache änderte sich auch. Narrative Äußerungen bei höherer Qualität, deskriptive bei geringerer. Da hieß es über Letztere zum Beispiel: „Das ist glatt, das dehnt sich.“ Auf einen feinen Baumwollpopeline reagierte ein Proband hingegen, als hätte das Material Persönlichkeit: „Der erzählt mir etwas, der schmeichelt mir.“ Ein Kaschmir-Angora-Stoff regte die Phantasie einer Probandin an: „Ich stelle mir eine elegante Frau mit Sonnenbrille vor. Ich weiß, wie ihr Parfum riecht und ihre Schritte klingen.“
Auf lange Sicht und bei häufigem Einsatz im Alltag rentieren sich solche zweifelsohne teureren Stücke sogar irgendwann. Am besten, man schaut sich auf Vintage-Plattformen um. Dass Secondhandmode gerade so beliebt ist, hat nämlich auch damit zu tun, dass Bekleidung bis zur Jahrtausendwende noch deutlich aufwendiger entworfen und gefertigt wurde. Fast Fashion taugt hingegen seltener zur Weitergabe.
Ein Durchschnittsmaß passt nicht allen
Stretch ist bequem, doch Komfort kann auch als hübsche Schwester der Nachlässigkeit gelesen werden: zu bequem, um sich anzustrengen, zu bequem, um etwas gut zu machen. Bequem und praktisch ist die Verwendung von Stretch-Materialien insbesondere für die Bekleidungsindustrie. Anstatt in die Entwicklung von Schnitten zu investieren, passen sich Kleidungsstücke jedem Körper an. Der Fertigungsaufwand ist geringer, die Stückzahlen sind höher, der Skaleneffekt ist entsprechend lukrativ. Wenn sich Kleidung unbequem anfühlt, ist aber in der Regel nicht mangelnde Dehnbarkeit der Stoffe das Problem, sondern fehlende Passform. Auch gut geschnittene Sakkos lassen Bewegungsfreiheit zu. Baumwollhemden ohne Elasthan erhalten schräg verarbeitet Elastizität. Das bedeutet, dass der Stoff beim Zuschneiden nicht längs, sondern diagonal gelegt wird. Und selbst Oversize-Schnitte entfalten ihre ästhetische Differenzierung zwischen Sack und Schick erst durch bewusst gesetzte Maße.
Der Körper ist die einzige Gewissheit im Leben des modernen Menschen. Er ist individuell und einzigartig. Umso paradoxer ist es, ihn entlang eines Durchschnittsmaßes in Kleidergrößen zu kategorisieren, welche einst zur standardisierten Ausstattung militärischer Einheiten entwickelt wurden. Small, Medium, Large sind heute gängige Größen. Kaum bekannt ist, dass es sich dabei zunächst um Maße für die Ausstattung militärischer Einheiten handelte. Das Heer brauchte schließlich eine einheitliche Uniform, die konnte sich in einer Zeit, als noch zu Hause genäht wurde, nicht jeder selbst anfertigen. In der Zwischenzeit wäre der Krieg verloren gewesen. Also kamen diese pragmatischen Einheitsmaße auf. Von Mitte des 20. Jahrhunderts an kamen sie in den Kleiderschränken der Zivilbevölkerung an.
Casualisierung ist auch keine Lösung
In seltenen Fällen bedingt der Arbeitsalltag ausgeprägte sportliche Bewegungsabläufe. In Sneakers geht es seit einigen Jahren trotzdem wie selbstverständlich ins Büro, erlöst von angeblich unpraktischen Lederschnürern oder Pumps, den Nylonrucksack geschultert. Lässige Jeans statt gebügelte Stoffhose. Wie praktisch Bekleidung ist, richtet sich allerdings nicht nach dem Profil einer Schuhsohle, sondern nach dem Einsatz von Trägerin und Träger auf dem entsprechenden Terrain.
Vielleicht muss man sich an dieser Stelle an die Maxime des Produktdesigners Wilhelm Wagenfeld erinnern: dass beim Entwurf von Alltagsgegenständen Brauchbarkeit und Schönheit untrennbar miteinander einhergehen sollen. Schon der altgriechische Begriff der „Kalokagathia“ vereinte die Attribute „schön“ (kalòs) und „gut“ (agathós) in einem Wort.
Besser: Individualisierung
Mode ist ein außergewöhnliches Konsumgut. Es lässt sich mit einfachen Mitteln individualisieren. Da mögen Automobilhersteller heute konfigurierbare Marginalien wie die Farbe des Rückspiegels oder die Ziernaht am Schalthebel bewerben. Solche personalisierbaren Optionen hat die Mode zugleich nahezu unwidersprochen aufgegeben, zum Wohle einer von Standardisierung geprägten Fashion-Industrie. Auch Reparaturkompetenzen gerieten in Vergessenheit. Und das, obwohl bereits ein auffälliger Knopf, einige Smokstiche in der Taille eines Hemdes oder ein paar Pinselstriche mit Lederfarbe an Jacke oder Schuh ein unscheinbares Stück zum It-Piece verwandeln könnten. Das kann jeder! Das Foto links auf dieser Seite zeigt es: Eine Studentin an der Universität St. Gallen, wo ich neben meiner freischaffenden Forschungstätigkeit lehre, hat im Rahmen einer Projektarbeit dieses schlichte weiße Hemd mit einigen Smokstichen an der Taille verändert. Der Eingriff ist minimal, die Wirkung umso größer.
Und was, wenn die Kleidung gar nicht das Problem ist?
Ebenso wie sich Identitäten in Bekleidungsvorlieben spiegeln, lassen sich Milieus an der äußeren Erscheinung ablesen: BWL-Studenten sind meistens nicht zu verwechseln mit angehenden Designerinnen, Sozialpädagogen kleiden sich wieder anders. Auch so entsteht ein Mode-Klima. Bei einer allzu ausgeprägten Diskrepanz mit den eigenen Vorstellungen stellt sich unweigerlich die Frage nach Übereinstimmung mit den in einem Umfeld gegebenen Werten. Wer sich verkleiden muss, fühlt sich eventuell auch inhaltlich fehl am Platz.
Drei Wege stehen zur Wahl: Anpassung, wenn Mode und Inhalt einigermaßen in Einklang zu bringen und die Argumente zum Verbleib stichhaltig genug sind. Ignoranz der Kleiderordnung, wenn man es sich erlauben kann. Oder die vestimentäre Botschaft als Warnsignal verstehen, in ein Umfeld zu wechseln mit größerer Schnittmenge zum Selbstbild. In der Bahn stieg mal ein junger Mann in mein Abteil zu: Anzug, Lederschuhe, Aktentasche. Dann holte er aus der Tasche ein Piercing heraus und steckte es sich ans Ohrläppchen. Dazu sagte er: „Endlich darf ich wieder.“