
Ist das ein wirrer Traum? Eigentlich alles deutet darauf hin: Udo Lindenberg nuschelt hinter dunkler Brille in ein Mikrofon, in das kurz zuvor noch Boris Palmer geschwäbelt hat, ein Abt namens Nikodemus Schnabel spricht dem gewaltfreien Raum die Atmosphäre einer Basilika zu, ein Saxophonist spielt zum Playback die Melodie von „Mädchen aus Ostberlin“, und das Ganze entpuppt sich als Eröffnung eines Kunstmuseums im Industriegebiet von Tübingen, das Udos mit Eierlikör gemalte Bilder ausstellt? Geh mal zum Arzt!
Und doch ist es so, und wir sind live dabei. „Panik in Tübingen“ verspricht der Titel der Ausstellung. Das wirkt nicht zuletzt ein Seitenhieb darauf, dass nicht alle in der Stadt das „Neue Kunstmuseum Tübingen“ rückhaltlos begrüßen, weil es der Kunsthalle Tübingen Konkurrenz macht und weil sein Name auf ein kommunales Projekt schließen lasse, dabei handelt es sich um ein privates. Kurator Bernhard Feil, im Hauptberuf Galerist, hat gemeinsam mit seinem Geschäftspartner den Entwurf des Architekten Albert J. Eisele für 8,9 Millionen Euro an der Schaffhausenstraße schnell bauen lassen.
Gleichlang, aber verschieden breit
In einer Zeit, in der Bauvorhaben oft sehr viel teurer sind, sich oft verzögern und dann noch immer teurer werden (Stuttgart lässt grüßen), ist man am Einweihungsabend naturgemäß stolz auf das Ergebnis. Feil konnte Lindenberg durch persönlichen Kontakt für die Eröffnungs-Schau als Publikumsmagnet gewinnen, aber dass der Sänger, der seit dreißig Jahren auch malt, wirklich kommt, ist für viele eine Überraschung.

Oberbürgermeister Boris Palmer preist dann sogar, dass das Museum die Stadt nichts gekostet habe und bewundert, dass das Projekt in diesem „Koschtenrahmen“ verwirklicht werden konnte. Als Udo Lindenberg tatsächlich die Bühne betritt und zu nuscheln beginnt, mögen manche ihn zunächst noch für ein Double halten – aber spätestens, als der erste Aussteller im neuen Haus eine kaum verständliche Anekdote über eine Zeit erzählt, in der die Tage gleichlang, aber verschieden breit waren, weiß man: Er ist’s.
Im Gegensatz zum Ausstellungstitel lautet Udos Botschaft freilich wie eh und je: „Keine Panik“. Auch seine Bilder im Museum zu sehen, versetzt ihn nicht in solche, erwähnt er doch, dass sie schon in der „Ritze“ auf der Reeperbahn hängen, im Kanzleramt und auf der Raumstation ISS, falls wir uns nicht verhört haben.
Goodbye, Palazzo Prozzo
Auf Udos Bildern widmen sich seine charakteristischen Nasenwesen sehr irdisch dem Sex, den Drogen und dem Rock ’n’ Roll, man sieht voluptuöse Nacktboxerinnen und einen Sexualakt mit dem Titel „Vollbeschäftigung“. Aber es gibt da auch noch eine Serie über die zehn Gebote, die in ihrer Mischung aus Drastik, kunstgeschichtlicher Anspielung und Karikatur wie ernsthafte theologische Kunst wirkt. Der Künstler selbst, der sich einst als der „schnelle Stricher von St. Pauli“ bezeichnete, unterscheidet in seinem Werk zwischen spontaner Rock-Art und großer „Peace-Art“ im Dienste seines radikalen Pazifismus, sei es für die wirkliche Welt oder auch für intergalaktischen Reisen der „Udonauten“.

Zum Konzept des Neuen Kunstmuseums Tübingen gehört, dass es zugleich Galerie ist. Im Obergeschoss kann man auch Bilder Lindenbergs kaufen. Eine von Goethes „Faust“ inspirierte Zeichnung namens „Auerbachs Keller II“ kostet 22.500 Euro und „Goodbye Palazzo Prozzo“, Mixed Media auf Leinwand, 34.000 Euro.
In der Abteilung nichtkäuflicher Werke kommt man dann zum Höhepunkt der Schau: Für die einen sieht, was da auf einem Podest vor einem sehr großen Wandbild steht, aus wie ein Schlagzeug, aber Lindenberg macht es zum „Ejakulator“. Mittels Getrommel darauf wurde nämlich durch eine spezielle Spritz-Apparatur einst in einer Live-Performance zusätzliche Farbe auf dem fast acht Meter breiten Quadriptychon „Orpheus und Eurydike“ verteilt, die diesem den finalen Touch gab.
Was die beiden im Hades so anstellen, ist wiederum nicht jugendfrei und fällt teils auch in die Kategorie der Quatsch-Art. Aber Hätte Orpheus doch bloß einen Panik-Doktor gehabt, er hätte sich vielleicht nicht umgedreht.