Will man
sich von der SPD duzen lassen? Wie soll man überhaupt jetzt Nähe zu einer
Partei finden, wenn deren Kanzler über drei Jahre hinweg einen emotional stets
auf Distanz hält?
„Wir kämpfen für Deine Bildung“, „Wir kämpfen
für Deine Sicherheit“, „Wir kämpfen für Deinen Arbeitsplatz“, „Wir kämpfen für
Deinen Wohlstand“, flimmert es weiß auf rot über eine Großleinwand im Foyer des
Willy-Brandt-Hauses, der SPD-Parteizentrale in Berlin-Kreuzberg, wo nun gleich
die Wahlsiegkonferenz einer 15-Prozent-Partei beginnen soll. Und wer noch
nicht ganz verstanden hat, worauf diese ranschmeißerische Duz-Offensive zielt,
muss nur fünf Meter weiter nach links schauen, wo sich dem Betrachter
großbuchstabig die Ur-Botschaft aller Sozialdemokratie ins Auge brennt:
„SOZIALE POLITIK FÜR DICH“.
Gibt es diese
Fürsorge eigentlich auch für Menschen, die sich von der SPD lieber siezen
lassen?
Als man
gerade darüber nachdenkt, warum den Sozialdemokraten zur Besonderheit der
Gegenwart – der Polykrise aus Krieg in Europa, wirtschaftlichem Niedergang,
Klimawandel, geopolitischer Disruption unter einem US-Präsidenten Donald Trump
– nichts Neueres einfällt als die
Parolen der Vergangenheit, erscheint Olaf Scholz zur Stellprobe auf der Bühne.
Das Foyer ist da vielleicht zu einem Viertel gefüllt, doch die anwesenden
Genossen rühren keine Hand. Beifall für den Kanzler gibt es wohl nur noch als
inszeniertes Spektakel, wenn die Kameras laufen und Geschlossenheit
demonstriert werden soll. Oder sogar Begeisterung.
Rund 500
SPD-„Campaigner“, wie das neudeutsch heißt, sind zum offiziellen
Wahlkampfauftakt der SPD geladen – Menschen also, die in den knapp drei Monaten
bis zur Bundestagswahl die Botschaften der SPD so unters Wahlvolk bringen
sollen, dass die Wahlsiegkonferenz in der Rückschau doch noch Sinn ergibt. Am
Vormittag sollen sie mit Reden der beiden Vorsitzenden sowie des nun endlich
nominierten Kanzlerkandidaten öffentlich in Wahlkampfstimmung gepimpt werden
und am Nachmittag, hinter verschlossenen Türen, in Workshops lernen, wie man
diese Stimmung in Stimmen verwandelt. Warum sollte das nicht gelingen, wenn es
schon mal jemand geschafft hat, Wasser in Wein zu verwandeln? Allerdings hat
der nicht für „Deine Rente“ gekämpft.
Mit knapp 20
Minuten Verspätung läuft die SPD-Spitze dann ein. Im nun proppenvollen Foyer –
die Kameras laufen nun – stehen die Genossen auf und klatschen, nicht nur
geschlossen, sondern begeistert. Das mit dem inszenierten Spektakel klappt
schon mal. Im Vorprogramm des Kanzler-Auftritts reden zunächst Lars Klingbeil
und dann Saskia Esken, die beiden Parteichefs. Klingbeil hat sich einfallen
lassen, aus der aktuellen Umfragen-Schwäche der SPD eine prinzipielle
Genossen-Stärke abzuleiten: „Wir sind die Partei für die Aufholjagd“, ruft er
den Campaignern zu und erinnert daran, dass die Lage drei Monate vor der Wahl
2021 ähnlich ausweglos schien wie jetzt. In seiner gut zehnminütigen Rede setzt
Klingbeil den Zuspitzungssound, der die
Veranstaltung prägt und der wohl bis zum Wahltag bei SPD-Veranstaltungen nicht
mehr abklingen wird.
Auf der
einen Seite steht dann stets, wie jetzt, der SPD-Kanzler Olaf Scholz, der für
die Erhaltung bedrohter Industriearbeitsplätze kämpft, Geld für dringend
notwendige Investitionen in die Modernisierung der Infrastruktur locker macht
und die Renten sichert. Auf der anderen ein Kanzlerkandidat der CDU, der
abgetaucht ist, zu all dem nichts Konkretes sagt oder sich stur stellt. Bester
Satz in Klingbeils Wahlkampf-Soundcheck: „Friedrich Merz muss aufpassen, dass
er nicht der berühmteste Totalverweigerer des Landes wird.“
Saskia Esken
haut in dieselbe Anti-Merz-Kerbe und beginnt ihre Rede mit dem
obligatorischen Wahlkampf-Hinweis, dass es dieses Mal wirklich ums Ganze gehe:
„Entweder mutig vorwärts mit Olaf Scholz oder muffig rückwärts mit Friedrich
Merz.“ Klingbeils Aufzählung ergänzt sie durch ein Thema, das den
Polarisierungswahlkampf der SPD noch sehr bestimmen dürfte. Sie sei angesichts
der Weltlage „unfassbar froh“, ruft die SPD-Chefin ihren Parteifreunden zu,
dass „kein unbeherrschter Heißsporn“ jetzt im Kanzleramt sitze, sondern „genau
der Richtige“, Olaf eben, der „die Dinge vom Ende her denkt“. Wärmster Satz, den sie den versammelten
Wahlkämpfern, die allesamt mit einem roten Schal (Slogan: „Soziale Politik für Dich“) beschert wurden, auf den Weg gab: „Es ist
kalt draußen. Wir sind aber auf Betriebstemperatur.“
Dass Esken
am Ende ihres Auftritts eine stehende Ovation erhält, ist ein erstes Anzeichen
dafür, dass im Saal etwas geschieht, was die SPD schon immer besser hinbekommen
hat als andere Parteien: Sie beginnt sich an sich selbst zu berauschen. Mit dem
folgenden Auftritt von Scholz setzt sich das fort. Der Kandidat, den so mancher
in der Partei nicht wollte, muss dreimal neu ansetzen, mehrfach ins Publikum
winken und den Jubel und die Klatschorgie mit einer Handbewegung
herunterdimmen, bevor er mit seiner Rede beginnen kann.
Scholz
beginnt mit dem Ernst der Zeit, verrät, wo die Wahlen entschieden werden,
breitet Vorschläge aus, wie er das Land aus seiner Wirtschaftskrise führen
will, spricht über Flucht und Migration, die Inflation, die Rente, Gesundheit
und Pflege, bezahlbaren Wohnraum und ganz allgemein über die Finanzen, um
in einem Bogen über die Vorteile des „und“ gegenüber einem „entweder oder“ auf
Krieg und Frieden zu kommen, bevor er mit einer Überraschung endet.
Im
Schnelldurchlauf klingen die 55 Minuten Scholz-Rede in etwa so: In ernsten
Zeiten braucht es verantwortungsbewusste Politiker und keine Spieler und Zocker
der Lindner-Klasse, und Heißsporne wie die Merzens dieser Welt schon gar
nicht. Wahlen werden in der Mitte entschieden, also dort, wo weder AfD oder BSW und
auch nicht der „Zurück-Konservatismus“ der CDU angesiedelt sind; dort, wo es
keine „grünen Brechstangen“ in der Klimapolitik gibt; dort, wo man nach
„Augenmaß und Besonnenheit“ fragt. Also dort, wo sich allein die SPD
befindet. Dem wirtschaftlichen Niedergang
des Landes will Scholz – das ist bekannt – mit staatlicher Unterstützung für
die Erhaltung von Industriearbeitsplätzen, mit – das ist neu – einer
Netzentgelt-Bremse (deckelt den Energiepreis), mit einem – auch neu – „Made-in-Germany-Bonus“ für Investitionen hierzulande, einer – bekannt – Reform der
Schuldenbremse und dem – alter Hut – Kampf gegen Fachkräftemangel durch
Qualifikation und zielgerichteter Zuwanderung entgegentreten.
Zu den
übrigen Themen hört man viel schon Bekanntes. Bei den Finanzen wird es dann
wieder interessanter, als Scholz seinem Widersacher die Rechnung präsentiert.
Die Steuersenkungsvorschläge der CDU summierten sich, so Scholz, auf insgesamt
66 Milliarden Euro und entsprächen damit ziemlich genau den gesamten
Investitionen des Bundes. Dem Vorwurf,
Merz wolle die Finanzlücke, falls er die Wahl gewinne, durch Einsparungen bei Rentnern, Familien und
den Arbeitnehmern gegenfinanzieren, schmettert Scholz ein sehr lautes „Nicht
mit uns, nicht mit der SPD“ entgegen. Der Kanzler wird emotional und gleich noch
ein wenig mehr. Doch zuerst muss er noch etwas zu Krieg und Frieden und der
Ukraine sagen.
Scholz
platziert seine Haltung zum Krieg in der Ukraine genau in der Mitte zwischen
den „Kreml-Lautsprechern“, die „von Frieden sprächen, aber Friedhofsruhe
meinen“, und den „Heißspornen“, die stets nur mehr und immer weitreichendere
Waffen forderten und mit ihrer „Wird schon irgendwie gut gehen“-Chuzpe alle
Bedenken zur Seite wischten. Scholz versprach, seinen „Kurs der Besonnenheit“
beizubehalten, und sagte dann den sehr schön griffigen Satz: „Mit der Sicherheit
Deutschlands spielt man nicht russisches Roulette.“ Mit einem so schönen Satz im
Angebot wird sich der Polarisierungswahlkampf gegen Friedrich Merz wunderbar
zuspitzen lassen.
Zum Schluss
kommen einem fast die Tränen, also weniger den anwesenden Journalisten als den
versammelten Genossen. Olaf Scholz greift tief in die Emo-Kiste: „Die Partei
ist mir eine Heimat“, gefühlsduselt der Kanzler, dem die Gefühlsduselei
eigentlich so fremd ist wie Friedrich Merz die Selbstironie. Und als er dann
noch einen draufsetzt und nachschiebt: „Was mich antreibt, ist die Liebe zu
den Menschen und die Liebe zum Land“,
hat die Partei etwas gefunden, was sie seit drei Jahren sucht: Nähe zu ihrem
Kanzler. Als Scholz endet, beklatschen und bejubeln ihn die 500 SPD-Campaigner
so laut, dass es sich nicht mehr inszeniert, sondern echt anhört. Und der eine
oder die andere wird im kollektiven Rausch der SPD an sich selbst und ihrem
Frontmann den Heimweg wohl in dem Gefühl antreten: Wahlsiegkonferenz hört sich
doch nicht so absurd an, wie ich zuerst dachte.