Schlemmen statt Skifahren in Bad Ragaz

Der Käse darf keine Blähungen bekommen

Links laufen wir steil bergan zur Sennästube, einer rustikalen Almhütte ganz aus Tannenholz, in der sich eine hochmoderne Käserei verbirgt. 50 Bergbauern, deren Schweizer Braunvieh auf neun Almen rund um den Flumserberg grasen, produzieren hier jedes Jahr 10.000 Laibe Alpkäse, der sich in der Schweiz nur so nennen darf, wenn nicht nur die Kühe in den Bergen sind, sondern auch die Milch dort oben verarbeitet wird. Nichts anderes als die Gräser, Kräuter und Blumen der Almen fressen die Tiere, und nichts anderes als die natürlichen Bakterien der rohen Milch lassen den Käse ganz sanft und gleich­mäßig reifen. Wenn man die Milch pasteurisiere und nachträglich Bakterien hineinwerfe, sagt der knarzige Wirt der Sennästube, ein legitimer Nachfahre des Alpöhi, bekäme der Käse wegen der aggressiven Buttersäure der Bakterien Blähungen und Löcher, und das sei ganz schlecht. Dann zeigt er stolz auf die Verkaufsecke mit seinen wunderbar homogenen Alp-, Fondue- und Raclette-Käsen, die mit Pfeffer, Peperoni und Knoblauch, Chili, Tomaten und Basilikum, Kümmel, Koriander und Bockshornklee aromatisiert werden. Und dann sagt er ganz unschweizerisch unbescheiden, dass er eine Viertelmillion Franken Umsatz pro Jahr mit dieser unscheinbaren Ecke mache.

Geschichte, Glanz und Gloria: Das Grand Resort verbindet luxuriös das Alte mit dem Neuen.
Geschichte, Glanz und Gloria: Das Grand Resort verbindet luxuriös das Alte mit dem Neuen.Grand Resort Bad Ragaz

Viele Besucher waren allerdings enttäuscht von der Sennästuben-Käserei mit all ihrem unromantischen Edelstahl und den behördlichen Hygienevorschriften, sodass sich die Bauern entschlossen, die Brauchtumskäserei Tannenboden zu gründen und dafür ihre alte Almkäserei zu reaktivieren. Jetzt stehen wir in einem klaustrophobisch niedrigen Raum mit einem Kupferkessel, der über dem offenen Feuer mit Holzscheiten erhitzt wird, umringt von den alten Gerätschaften wie der Harfe mit ihren stählernen Saiten, die den Käse zuschneiden, dem Rührer mit den kreuzförmigen Holzstäben, die der Molke Homogenität verleihen, den Ringen aus Erlenholz, die den Laiben ihre Form geben. Sommers wie winters stellen die Hobbykäser hier unter Anleitung eines alten Alpkäsemeisters ihre eigenen Laibe her – im Winter mit der Milch eines Bauern, der seine Kühe das ganze Jahr über nur mit Heu und Rüben füttert –, holen sie nach drei bis sechs Monaten Reifung ab und dürfen sich dann über einen Käse freuen, der so schmeckt wie aus einer Zeit, als das Skifahren noch gar nicht erfunden war.

Jungbrunnen im tiefsten Schlund der Alpen

Kühe standen auf den Almen schon an jenem schicksalhaften Tag, an dem zwei Gamsjäger in einer wilden Schlucht ein paar Kilometer weiter südlich eine wundersame Quelle entdeckten. Sie labten sich in ihr, fühlten sich plötzlich wie neugeboren und erzählten den Benediktinern der nahen Abtei Pfäfers von ihrem Jungbrunnen hoch über dem Tal des jungen Rheins, die als gute Christenmenschen die Heilwirkung des Wassers aus der Tamina-Schlucht nächstenliebend der ganzen Welt kundtaten. Das geschah im Jahr 1242 und war die Geburtsstunde des Kurwesens in Ragaz am Ausgang der Tamina-Schlucht, das spätestens 1535 einen rasanten Aufschwung nahm, nachdem der berühmte Paracelsus die heilende Kraft des Thermalwasser gerühmt hatte. Anfangs wurden die Kurgäste noch mit Seilen zur Quelle hinuntergelassen, später schöpften sie das Wasser aus Brunnen entlang einer vier Kilometer langen Leitung in Richtung Ragaz, und wirklich bequem wurde die Sache erst, als sich ein Schustersohn aus der Innerschweiz ihrer annahm.

Wunderquelle: Ohne das Wasser aus der Tamina-Schlucht wäre Bad Ragaz nicht das, was es heute ist.
Wunderquelle: Ohne das Wasser aus der Tamina-Schlucht wäre Bad Ragaz nicht das, was es heute ist.Imago

Bernhard Simon brachte es in St. Petersburg zum gefeierten Architekten, baute die Paläste der Großfürsten im Dutzend, kehrte hochgeehrt nach Hause zurück, eröffnete 1868 ein Grand­hotel in Bad Ragaz und 1871 gleich nebenan die erste geschlossene Therme Europas, die nicht nur die russische Hocharistokratie, sondern auch Rilke und Nietzsche, Thomas Mann und Victor Hugo zum Kuren ins Rheintal lockte. Und sein Erbe lebt heute glanzvoll weiter: Aus dem Grand Hotel ist das Grand Resort Bad Ragaz geworden, ein labyrinthischer Komplex aus vier Häusern vom Rokoko-Palais bis zum modernen Hochhaus mit luxuriösen Spa-Suiten, die eine Therme und ein Casino, ein eigener Kurpark und gleich zwei Golfplätze ergänzen. Das Haupthaus ist zwar erst ein paar Jahre alt, macht aber architektonisch der großfürstlichen Glanzzeit von Bad Ragaz mit Petersburger Pracht und Prunk, mit Blattgold und Marmor, Mosaiken und Intarsien, korinthischen Kapitellen und kannelierten Säulen verschwenderisch die Honneurs – vielleicht nicht jedermanns Geschmack, aber einem Ort mit einer solchen Historie sehr angemessen.

Auf dem Gipfel des Genusses liegt kein Schnee

Gespart wird an nichts, gezeigt wird alles, was man hat. Das Foyer schmückt eine 25 Meter hohe Kaskade aus 2500 mundgeblasenen Kristallkugeln, die das sprudelnde Thermalwasser symbolisieren und zweimal im Jahr von Bergsteigern gereinigt werden – an Seilen hängend wie einst die ersten Kurgäste. Die Wände sind mit Kunstwerken aus der Privatsammlung der Familie Schmidheiny gespickt, die ihr Vermögen mit Zement gemacht, allerdings auch ein Interesse an feinsinnigeren Dingen hat und die Geschicke des Hotels seit 1928 lenkt. Auf Schritt und Tritt begegnen uns Superstars der Kunstmoderne wie Louise Bourgeois oder Antonio Tàpies, im Kurpark fühlen wir uns dank der Sammelleidenschaft der Schmidheinys wie in einem Skulpturenpark. Und den Gipfel des Genusses, das eigentliche Motiv unseres Aufenthaltes, werden wir uns ganz ausgiebig schmecken lassen: Nicht weniger als sechs Michelin-Sterne sind in den vergangenen Jahren über dem Grand Resort niedergegangen, als sei es das Sterntalermädchen aus dem Märchen, eine spekta­kuläre Anhäufung des Feinschmeckerglücks, die es auf der Welt kein zweites Mal gibt.

Ein Michelin-Stern: Im „Verve“ kommt nur Gesundes auf den Tisch, ohne dass Schmalhans Küchenmeister ist.
Ein Michelin-Stern: Im „Verve“ kommt nur Gesundes auf den Tisch, ohne dass Schmalhans Küchenmeister ist.Grand Resort Bad Ragaz

Vernunft statt Völlerei, aber ohne Verzicht und Askese, um die heilsamen Effekte des Kuraufenthalts nicht gleich wieder zunichtezumachen: Das ist das Motto, mit dem sich Sven Wassmer in seinem Zweitrestaurant „Verve“ einen Michelin-Stern erkocht hat und uns jetzt eine Portion Lebensverlängerung serviert: viel Ve­getarisches, ausschließlich Gesundes und nicht nur meist leichte, sondern auch leicht verständliche Gerichte, eine Küche ohne Komplikationen in einer Welt, die schon kompliziert genug ist. Dabei achtet Wassmer rigoros auf Regionalität, kennt fast alle Produzenten persönlich, verwendet nur Kaviar aus dem Berner Oberland, dessen Störe im Bergquellwasser groß werden, und platziert ihn auf einer knusprigen Waffel mit Eigelbcreme und Schnittlauch – am liebsten würden wir ihn, der Wahrheit die Ehre, wie die einstige Stammkundin Großfürstin Pawlowna ganz pur ohne alles Drum und Dran naschen.

Koreanisches Superfood mit geschmolzenen Kartoffeln

Die Crevetten des „Verve“ werden biodynamisch in St. Gallen großgezogen und kunstvoll mit dem koreanischen Superfood Kimchi, einer Julienne aus Rotkohl und Weißkohl und Sanddorn als Creme und Sud kombiniert. Und das Luzerner Flap Steak vom Rind wäre mit seinen geschmolzenen Kartoffeln und dem gebratenen Grünkohl die ideale Kraftnahrung nach einem anstrengenden Skitag, den wir aber gar nicht vermissen – und glücklicherweise werden wir auch nicht in Versuchung geführt, weil sich die Gondel ins Skigebiet Pizol diskret am anderen Ende von Bad Ragaz versteckt. Da ist es auch ein Leichtes, uns morgen ins gemachte Nest zu setzen.

„Igniv“ heißt Nest auf Rätoromanisch, und so heißt auch das Zwei-Sterne-Restaurant des Grand Resorts, für dessen Konzept Andreas Caminada verantwortlich ist, gebürtiger Rätoromane, bekanntester Koch der Confoederatio Helvetica und ein so begnadeter Ausbilder, dass man in der Schweiz von den „Caminada-Kindern“ spricht. Ein solches ist auch unser Chefkoch Joël Ellenberger, der Souschef in Caminadas Drei-Sterne-Restaurant auf Schloss Schauenstein war und sich 2021 im Jünglingsalter von 27 Jahren in Bad Ragaz selbst zwei Michelin-Sterne erkocht hat – in einem Nest, das seinem Namen alle Ehre macht, uns mit einer Mischung aus Kamin- und Wohnzimmer empfängt und alle Gäste dazu animiert, die Gerichte wie am Familienesstisch zu teilen.

Der Langostino wird zum Yin und Yang

Andreas Caminada gibt dabei nur den groben Rahmen vor, sein Eleve Ellenberger ist allein für das Menü verantwortlich. Er liebe beim Kochen den „Punch“, hatte uns der junge Chef gesagt, und was er mit dem harten Schlag meint, begreifen wir sofort: Sein Küchenstil ist so leidenschaftlich und lebensfroh wie Joël Ellenberger selbst, der mit einem solchen jugendlichen Ungestüm auf die Aromen-Pauke haut, als sei er ein Oskar Matzerath am Herd. Das Ei royale wird gleich zweifach mit Trüffeln aus dem Périgord und dem Piemont verfeinert, die karamellisierte Mandel bekommt einen brokatschweren Mantel aus Gänseleber und Roter Bete umgehängt, der Kohlrabi wird virtuos zu einem Croissant verformt und mit geräuchertem Bärlauch gefüllt. Der Langostino thront einerseits auf einem Katafalk, auf dem ihn Buchenspäne am Tisch räuchern, und erscheint andererseits wie ein Yin und Yang als roher Tatar-Taler. Das Ponzu bei der gebeizten Dorade ist eine Hommage Ellenbergers an seine japanische Großmutter, der Jalapeño bei den Gemüseröllchen eine Er­innerung an seine große Lateinamerika-Reise und das Bresse-Huhn im Harissa-Federkleid mit Chili-Mayonnaise ein Freudenfest der expressionistischen Exotismen. Und ganz zum Schluss füllt man uns beim Abschied im „Candy Store“ eine Schachtel mit feinen Pra­linen und Friandises – wer könnte da noch die Skihütteneinheitskost mit ihren Industrieschokoladenriegeln vermissen?

Zwei Michelin-Sterne: Das „Igniv“ vermählt Bodenständigkeit virtuos mit Weltläufigkeit.
Zwei Michelin-Sterne: Das „Igniv“ vermählt Bodenständigkeit virtuos mit Weltläufigkeit.Grand Resort Bad Ragaz

Nach so viel Sterneküche brauchen wir ein wenig rustikale Abwechslung, und da wir uns ohnehin das Beste bis zum Schluss aufheben, überqueren wir den Rhein, um es uns in der Bündner Herrschaft gut gehen zu lassen. Sie rühmt sich, das Burgund der Schweiz zu sein, ist aber auch die Heimat Heidis, die Johanna Spyri aus ihrem Frankfurter Exil in Maienfeld ankommen lässt – mit der ungeahnten Folge, dass das heimwehtrunkene Mädchen jetzt in der Bündner Herrschaft allgegenwärtig ist, gern auch in der japanischen Comic-Version. Wir aber lassen das Heidi-Dorf, die Heidi-Alm, den Heidi-Hof, den Heidi-Shop, den Heidi-Brunnen links liegen und kehren lieber in die Maienfelder Dorfgaststätte „Falk­nis“ ein, um dort zu lernen, dass die Schweizer hinter ihrer trügerischen Fassade der spröden Bescheidenheit wahrhaf­tige Bonvivants sind.

Schon mittags fließt der Wein in Strömen

Die Decke ist niedrig, der Lampenschmuck aus Hufeisen, alles andere aus Holz, die Küche streng lokalpatriotisch und die Stimmung schon mittags prächtig, weil fast alle Gäste – von den Arbeitern in voller Montur bis zu den Rentnern in sportiver Funktionskleidung – Wein trinken, der selbstverständlich fast ausschließlich aus der Bündner Herrschaft stammt. Jeder kennt jeden, alle grüßen alle, man nimmt sich Zeit für eine ausgedehnte Mittagspause, hält sich mit Maienfelder Riesling-Silvaner-Suppe und Maienfelder Lamm­ragout schadlos, die Zicklein vom Peter scheinen heute aus zu sein. Und wir tun es den Einheimischen gleich, um dann so hochgestimmt wie pappsatt der nächsten Überraschung entgegenzuwanken.

Verdauungsspaziergang: Im tiefsten Winter wird die Tamina-Schlucht zur Eisskulptur.
Verdauungsspaziergang: Im tiefsten Winter wird die Tamina-Schlucht zur Eisskulptur.Picture Alliance

Stolz wie eine Königsresidenz thront Schloss Salenegg hoch über Maienfeld, das für sich in Anspruch nehmen darf, Europas ältestes Weingut zu sein. Andächtig stehen wir am Fuß des Schlosses mit seinen Trompe-l’œil-Malereien und der kolossalen, vierzehn Meter langen, aus einem einzigen Baumstamm gefertigten, von 50 Ochsen nach Maienfeld transportierten Weinpresse aus dem Jahr 1654 und blicken auf den legendären Wingert, in dem 1068 die ersten Rebstöcke gepflanzt wurden – und seither ununterbrochen Reben stehen.

Es kommt der Pferde-Peter, nicht der Geißen-Peter

Er ist die Wiege des Weinbaus in der 420 Hektar winzig kleinen Bündner Herrschaft, deren Weinberge ausnahmslos auf der Sonnenseite des Rheintals liegen, gewärmt vom Föhn, der so stark ist, dass ihn die Winzer „Traubenkocher“ nennen. Fast nur Pinot Noir und Chardonnay werden hier angebaut, ganz so wie im Burgund, doch auf keinen zehn Hektar Fläche wächst auch die autochthone Traube Completer, benannt nach dem Completarium, dem letzten Tagesgebet der Mönche, eine Weinweltrarität, die oft erst im November geerntet wird und eine wunderbare Balance aus hohen Alkoholgraden und einer feinen, zähmenden Säure findet. Im „Igniv“ hatten wir sie gekostet und uns heimlich gewünscht, ein frommer Benediktinermönch zu sein, um den Completer jeden Abend trinken zu können.

Aus guten Gründen der Vernunft verzichten wir jetzt aber auf eine ausführliche Weinprobe, denn die nächste Schlemmerei steht uns schon bevor. Nicht der Geißen-Peter, sondern der Pferde-Peter erwartet uns mit seiner geschlossenen Kutsche, die zwei prachtvolle Rösser ziehen. Freiberger seien das, die letzte echte Schweizer Rasse, grummelt der Peter, ein Kutscher so sehr nach dem Klischee eines Kutschers geformt, als habe ihn Johanna Spyri persönlich erschaffen, und setzt sich dann klaglos auf den bitterkalten Kutschbock, während wir es uns im beheizten Wagen gemütlich machen – mit einem Alpöhi-Fondue aus gereiften Käsen, das vor uns auf dem Tisch blubbert, während wir durch die Bündner Herrschaft rumpeln. Erstaunlich wackelig kommt uns die Kutschfahrt vor, jetzt verstehen wir, warum es Halterungen für Flaschen und Gläser gibt, und mit Geheimrat Goethe auf dem Weg nach Italien wollten wir jetzt wirklich nicht tauschen.

Christus Salvator grüßt die Loreley

In Schrittgeschwindigkeit geht es vorbei an den Weinbergen, die sich tollkühn die steilen Bergflanken hinaufziehen, ein strenges Parallelogramm der Rebzeilen vor der chaotischen Kulisse der Kalksteinriesen. Und bisweilen haben wir den Eindruck, überall sonst, nur nicht in der Bündner Herrschaft zu sein. Wir sehen schottische Hochlandrinder und andinische Lamas, die anstelle von Hirtenhunden auf die Schafe aufpassen und es sogar mit Wölfen aufnehmen. Wir kommen an Safranfeldern vorbei, als habe uns der Kutscher versehentlich nach Persien chauffiert, an einem – inzwischen wieder verschwundenen – Christus Salvator, der hoch oben wie in Rio de Janeiro auf ei­nem Felsen thront, an lauter Burgruinen, als sei der Rhein schon an der Loreley angekommen. Doch diese Verwirrung kümmert uns kein bisschen, weil unsere Kutschfahrt eine herrliche Übung in Entspannung und Gelassenheit ist, in sorg­loser Kontemplation und meditativer Ruhe weit jenseits allen Pistentrubels. Und sie passt hervorragend zu den Graubündnern, die berühmt für ihre Unaufgeregtheit und das Grundgefühl der unerschütterlichen Gemütlichkeit sind, das die Dänen „hyggelig“ nennen und für das es in ihrer rätoromanischen Sprache das schöne Wort „patgific“ gibt.

Drei Michelin-Sterne: Das „Memories“ feiert ein grandioses Hochamt der Alpenküche.
Drei Michelin-Sterne: Das „Memories“ feiert ein grandioses Hochamt der Alpenküche.Grand Resort Bad Ragaz

Endgültig vorbei mit der Frage nach links und rechts und unserer immer schwächer gewordenen Sehnsucht nach dem Skifahren ist es an einem Ort, an dem wir uns ähnlich entspannt fühlen wie bei unserer Fondue-Kutschfahrt, allerdings auf Weltklasseniveau bekocht werden. Wir sitzen am Tresen des „Memories“ und schauen Sven Wassmer bei der Arbeit in seiner sehr offenen Küche zu, einem 38 Jahre alten Aargauer, der es sich zum Ziel gesetzt hat, dem Namen seines Restaurants gerecht zu werden und uns bleibende Erinnerungen zu verschaffen.

Der Nikolaus bekommt Salatsaucen

Schon mit vier Jahren war der kleine Sven im Hause Wassmer für die Salatsaucen zuständig, deren Rezepturen er dem Nikolaus anstatt frommer Gedichte aufsagte, mit 14 stand der Berufswunsch felsenfest, und mit 17 gab es für den Jungkoch keinen Zweifel mehr, dass sein Lebenstraum nichts weniger als drei Michelin-Sterne sind. Natürlich wurde auch er ein „Caminada-Kind“, ging dann aber seinen eigenen Weg und begriff erst in ei­nem kosmopolitischen Restaurant in Lon­don, welche kulinarischen Schätze seine Heimat hütet. Konsequenterweise erkochte er sich in einem gottverlassenen Bündner Bergdorf zwei Sterne, verließ es nach der Geburt seines ersten Sohnes, weil dieser nicht wie der Geißen-Peter aufwachsen sollte, eröffnete 2019 sein Lokal im Grand Resort Bad Ragaz und war 2022 am Ziel seiner Lebensträume.

Um die Alpen dreht sich Sven Wassmers gesamte Küche, aber ohne lokalpa­triotischen Dogmatismus. Nicht aus der nächsten Umgebung, sondern aus allen sieben Alpenländern stammen die meisten Zutaten, die mit Kochtechniken aus aller Welt zubereitet werden – und siehe da, Gerste und Buchweizen lassen sich genauso gut wie Sushi-Reis mit dem japanischen Koji-Pilz fermentieren, und ein Miso aus Bienenpollen-Öl schmeckt genauso gut wie seine fernöstliche Soja-Schwester. So entsteht eine eminent kluge, feinsin­nige, hochkonzentrierte, weltoffene Küche, die dem traditionellem alpinen Geschmacksbild immer treu bleibt und es nicht für modische Exotismen verrät.

Es ist ein einziges Fest, schöner als der schönste Skitag: Der Schweizer Kaviar ruht auf einem kreisrunden Podest aus Meerrettich-Creme und mikroskopisch kleinen Rote-Bete-Würfeln, wird von ei­ner Sauce aus Dill und entsaftetem Meerrettich umspielt, von Dillspitzen und gehobeltem Meerrettich gekrönt und schmeckt so überwältigend glasklar, wie es ein wolkenloser Morgen in den Bergen ist. Der Bündner Bachsaibling wird mit Heu und Tannenzapfen geräuchert, dann nur unter der Wärmelampe gar gezogen, in ein Bettchen aus dem besonders intensiven Sennerei-Rahm und einem karamellisierten Tannen-Öl gelegt und entfaltet sich wie die innerste Aromenseele der Alpen in unserem Gaumen. Nicht anders ist es beim gedämpften und gegrillten Churer Kürbis mit Hanf-Nougat und Mandelsplitter, dem confierten Zander mit gepickeltem Kohlrabi, der alten Kuh vom Bodensee mit einem buttertrunkenen Kartoffelpüree à la Joël Robuchon – lauter Hommagen an die Welt der Berge, der wir so viel Potential an Raffinement und Finesse niemals zugetraut hätten.

Der Chef und seine Brigade bereiten das alles mit einer Ruhe in ihrer Küche zu, die uns Hobbyköche ganz neidisch macht, scherzen stressfrei, necken sich unentwegt und sind dabei so souverän entspannt, als gäbe es nichts Leichteres, nichts Selbstverständlicheres, als drei Michelin-Sterne zu kochen. Das wird uns genauso in Erinnerung bleiben wie Sven Wassmers ganz in sich ruhende, von allem Tand und allen Eitelkeiten befreite, dem Ideal des glücklichen Lebens so nahekommende Küche. Auf alle anderen Erinnerungen verzichten wir dieses Mal getrost.