
Gemächlich geht es zu in der Via Roma, an diesem für die kleine Hafenstadt Sanremo mal wieder großen Samstagnachmittag. Während die Weltelite des Radsports sich bereits auf den Weg gemacht hat in den südlichsten Winkel Liguriens, beschäftigt man sich in der Nähe des Zielstrichs noch mit dem Alltag. Gemüseeinkäufe werden erledigt, entlang der abgesperrten Rennstrecke, auf der nur ab und an Gruppen von hervorragend ausgestatteten Amateurradlern heranrollen, als eine Art Vorhut für die Profis später. Wer aber im Café dei Musicisti, 50 Meter vor der Ziellinie, noch seinen Kaffee trinken möchte, kann das gerne tun: In Ligurien leistet man sich die Gelassenheit, auch an diesem Tag. Man weiß schließlich, wie das läuft bei dem berühmten Straßenrennen, das vor der eigenen Haustür endet.
Mailand-Sanremo, das ist traditionell der Auftakt in die Zeit der Frühjahrsklassiker, in die richtige Radsaison. Der Start ist diesmal nach Pavia verlagert worden, außerhalb von Mailand, von dort aus geht es über 289 Kilometer bis ins Ziel, erst mit nur wenigen Anstiegen an die Küste, dann am Meer entlang. Einigermaßen unspektakulär ist das, nicht einmal der angekündigte Regen ist aufgetaucht, auch wenn die restliche Winterkälte in der Po-Ebene in den ersten Stunden in diesem Jahr ein Faktor ist. Aber wie sich das Peloton aus dem grauen Spätwinter der Lombardei in Richtung der frühlingshaften Cittá dei Fiori, der Blumenstadt, schiebt, das illustriert den Rhythmus der „Primavera“, der Fahrt in den Frühling.

:Wie Pogacar Pantani abhängt
Tadej Pogacar gewinnt zum dritten Mal die Frankreich-Rundfahrt und pulverisiert dabei auch Rekorde von Marco Pantani aus der finsteren Dopingzeit. Wie schafft er das? Ein historischer Zeitvergleich der Superkletterer.
In einem sechsstündigen Crescendo wächst dieses erste Radsport-Monument des Jahres heran. Und nur selten mündet es in einem so furiosen Finale wie bei der 116. Ausgabe vom Samstag, bei der nach einer denkwürdigen Schlussphase auf der Höhe des Café dei Musicisti noch immer nicht feststand, dass der Niederländer Mathieu van der Poel dieses Rennen gewinnen würde.
Van der Poel hält nun auf der Cipressa und dem Poggio die Bestwerte
Als einer von zwei Favoriten war van der Poel, 30, in Pavia gestartet, aber eher noch als Herausforderer des großen Tadej Pogacar, 26, den beim Gedanken an Sanremo allerdings ein spezielles Gefühl befällt. Als ein „Rennen, das mich ins Grab bringen wird“ hat Pogacar Milano-Sanremo vor einigen Monaten mal bezeichnet. Alle bedeutenden Titel im Radsport hat der Slowene gewonnen, viele mehrmals, nur eben noch nicht die langwierige Fahrt durch Norditalien im März. Aus Ligurien bekam man daher in der vergangenen Woche schon Fotos zu sehen, die Pogacar bei Sonder-Exkursionen zeigten: Zwei Wochen nach einem Sturz bei der Strade Bianche in der Toskana, wo er bei einer Abfahrt über die Straße geflogen war, sah man Pogacar wieder lächelnd auf Fotos mit Radsportfans am Strand von Alassio. Wenige Kilometer vor dem schwierigsten Teil der langen Strecke, der auch am Samstag die Entscheidung brachte.
An der Cipressa, einem 21 Kilometer langen Anstieg, setzten sich Pogacar, van der Poel und der Italiener Filippo Ganna (immerhin zweimaliger Weltmeister im Zeitfahren) vom Rest des Feldes ab. Pogacars Team UAE hatte ihm den Weg bereitet, alles lief nahezu optimal für den Slowenen. Nur van der Poel blieb hartnäckig: Teilweise konnte man den beiden bei Konversationen zuschauen während ihres Duells entlang der Küste, das sie schließlich an den Poggio brachte. „Anhöhe“ lautet die deutsche Übersetzung des Wortes, in ganz Italien gibt es zehntausende solcher Poggi, die einen zu Häusern mit schöner Aussicht führen; kaum einer ist so bekannt wie der von Sanremo. Bei der Tour de France würde man diese 5,5 Kilometer kaum als Bergwertung kategorisieren – aber nach 280 Kilometern im Sattel entfalten sie ihre ganz eigene Wirkung.
Wie in so vielen anderen Rennen stellen Pogacar, van der Poel & Co. auch am Poggio (und überhaupt auf der ganzen Strecke) schon seit Jahren immer wieder Rekordzeiten auf, die sogar jene aus der Hochdopingphase des Radsports übertreffen. Der Niederländer hält nun sowohl auf der Cipressa als auch auf der Anhöhe kurz vor dem Ziel den Rekord für die schnellsten Zeiten – es sind beachtliche Watt-Zahlen, die man derzeit bei den Duellen der Großen im Radsport messen kann, auch nach 6:15 Stunden Fahrzeit. Das löst manches Staunen aus und bietet zugleich herausragende Unterhaltung: Mehrmals griffen sich Pogacar und van der Poel auf dem Poggio an, das Crescendo wurde gegen Ende hin lauter und lauter. In der Abfahrt Richtung Ziel kam auch Ganna wieder an das Duo heran, und so ergab sich einer der engsten Sprints der jüngeren Geschichte in der Via Roma, an dessen Ende van der Poel Tränen in die Augen schossen und Ganna sogar noch vor Pogacar auf Platz zwei landete.
Lorena Wiebes komplettiert die niederländischen Festspiele
„Tadej ist jedermanns Rivale, wenn man ihn schlagen kann, ist man meistens nahe am Sieg. Ich bin froh, dass ich gegen ihn Rennen fahren kann“, sagte van der Poel später, nachdem die niederländische Hymne zum zweiten Mal in Sanremo erklungen war. Wenige Stunden zuvor hatte Lorena Wiebes bereits die erste Ausgabe des in Genua gestarteten Frauenrennens gewonnen.
Die niederländischen Festspiele allerdings wirkten nicht so eindrücklich wie die Tragik des Tadej Pogacar, der seinem erträumten Sieg in diesem Jahr noch näher kam als in den Jahren zuvor, als er immer wieder unter die besten Fünf gefahren war: „Nicht nur ich, das ganze Team hat heute alles richtig gemacht. Es war ein fantastisches Rennen, aber zwei waren schneller“, sagte Pogacar, der seine Enttäuschung diesmal aber nicht hinter seiner sonst stets perfekten Happy-to-race-Fassade verbergen konnte. Die Lücke in seinem sonst so makellosen Lebenslauf bleibt ihm schließlich: Die prachtvolle Via Roma von Sanremo, auf der schon wieder Kaffee getrunken wurde, während Pogacar noch Interviews gab, ist weiterhin die Nemesis des aktuell dominantesten Fahrers im Radsport.