
Die Antarktis. Gewaltige Eisberge in schillernden Blautönen, Pinguin-Kolonien und atemberaubende Fjorde – lange galt der einzige unbesiedelte Kontinent der Erde als Traumziel am Ende der Welt. Ein Ort für Forscher und Abenteurer, unerreichbar für die meisten. Aber in einer von sozialen Medien und Influencern geprägten Welt fallen auch die letzten Grenzen der Zivilisation. Der Tourismus im Südpolarmeer ist Experten zufolge zuletzt geradezu explodiert, auch wegen Plattformen wie Tiktok.
Die Zahlen sprechen für sich: Mitte der 1990er-Jahre lag die Besucherzahl noch bei weniger als 8000. Zehn Jahre später – in der Saison 2003/2004 – bereisten bereits 20.000 Menschen den 14 Millionen Quadratkilometer großen „Weißen Kontinent“. Schon damals sprach das „Antarctic Programme“ der australischen Regierung von einer drohenden Touristeninvasion. Das war vor dem weltweiten Siegeszug der Social Media. Und heute? In der Saison 2023/2024 verzeichnete die IAATO, ein internationaler Verband von Reiseveranstaltern mit Zielgebiet Antarktis, fast 123.000 Besucher. Mehr als jemals zuvor. Ist das schon Massentourismus? „Man kann die Zahlen natürlich nicht mit denen in Venedig, Barcelona oder auf Phi Phi Island vergleichen“, sagt Anne Hardy, Professorin an der Universität Tasmanien. „Aber was wir in der Antarktis erleben, ist eine zunehmende Diversifizierung, weg vom Nischen-Tourismus.“ Seit 25 Jahren forscht Hardy im Bereich Tourismus und Gesellschaft und war selbst drei Mal in der Antarktis. Den größten Anteil unter den angebotenen Touren machen Expeditionsschiffe mit maximal 500 Passagieren aus, die verschiedene Landgänge machen. Jedoch gebe es auch einen schnell wachsenden Markt für Schiffe ohne Landgänge, die aber bis zu 1000 Menschen an Bord hätten, sagt Hardy.
Mittlerweile würden Kreuzfahrten ins Südpolarmeer für alle nur denkbaren Interessen und Neigungen angeboten, erzählt die Expertin. Bald werde etwa die „Antarctica Pride Cruise“ für LGBTQ+-Gäste in See stechen. „Die Palette reicht von Wellness-Touren über medizinische Kongresse bis hin zu Swinger-Schiffen.“ Die jüngste „Antarctica Swinger Cruise“ bot ihren experimentierfreudigen Gästen unter anderem „erotische Unterhaltung, sinnliche Playrooms, sexy Themenabende und internationale DJs“ – sowie „heiße Aktivitäten an Bord“, sozusagen als Gegenpol zur antarktischen Kälte.
Apropos DJ: Der berühmte US-DJ Diplo hatte im Dezember 2023 „Live from Antarctica“ performt und damit als erster seiner Zunft auf allen sieben Kontinenten aufgelegt. „Episch!“, kommentierten Fans auf Tiktok. Natürlich sei der Kontinent immer noch ein sehr abgelegener, schwer erreichbarer und teurer Ort, aber durch die steigenden Besucherzahlen verliere er etwas von seiner Einzigartigkeit. „Langsam wird die Antarktis zu einem eher „normalen“ Reiseziel, zu einem Ort wie viele andere auch“, sagt Hardy.
Wie konnte es dazu kommen? „Vor wenigen Jahren gingen plötzlich Hashtags wie #AntarcticTourism oder #DrakePassage im Internet viral“, erzählt Hardy. Mit letzterem ist die für ihre unberechenbaren Wellen bekannte Meeresstraße zwischen der Spitze Südamerikas und der Antarktischen Halbinsel gemeint. Je unzugänglicher eine Region, desto mehr Follower sind garantiert – das wissen Influencer. Auf Tiktok erzielen ihre Clips, auf denen sie sich strahlend mit Weinglas in der Hand vor Eisbergen präsentieren, Millionen Klicks. Die Folge: Begeisterte Follower träumen nun ebenfalls von der Antarktis. „Auf Tiktok sind natürlich vor allem junge Leute unterwegs – kein Wunder also, dass der Markt für diese Altersgruppe besonders stark wächst“, sagt Hardy.
Bei manchen Influencern werde man dabei das Gefühl nicht los, dass ihnen die einzigartige Umwelt in der Polarregion ziemlich egal sei und es ihnen vorwiegend ums Ego und viele Likes gehe. Sie hätten sogar Spaß daran, sich etwas daneben zu benehmen. „Das wird dann alles online gepostet, und andere ahmen das wiederum nach.“ Mit wissenschaftlichen Expeditionen habe das nichts mehr zu tun. Dabei hätten Forschung und Tourismus im Südpolarmeer lange Zeit wunderbar koexistiert.
Auch die Antarctic and Southern Ocean Coalition (ASOC), ein Zusammenschluss von Umweltschutzorganisationen aus aller Welt, ist besorgt über den Trend. „Die Antarktis gilt als eines der letzten großen Wildnisgebiete der Erde, doch wir sehen die Gefahr, dass sie bald zu einer Art Abenteuerspielplatz wird, zur Bespaßung der Menschen“, sagt ASOC-Berater Ricardo Roura. Denn der Siegeszug der sozialen Medien biete Influencern heute immer mehr Plattformen, um ihre Antarktis-Erlebnisse zu verbreiten. Deshalb sei es wichtiger denn je, den Tourismus in der Region zu regulieren. Erst kürzlich kam ein dramatischer Weckruf: Auf einem historischen Gebäude auf der Vulkaninsel Deception Island, einem der faszinierendsten Orte der Region, wurde ein großes Graffiti entdeckt. Die IAATO sprach von „rücksichtslosem Vandalismus“, man sei „geschockt und angewidert“. Jedoch sei hierfür kein Besucher verantwortlich, der mit einem der IAATO-Mitglieder gereist sei, stellte der Verband fest. Ansonsten gebe es bisher wenig Belege für tatsächliche negative Auswirkungen des Booms, aber andererseits sei eine ständige Überwachung auch schwierig, sagt Roura.