Die meisten sind sympathischer, als sie denken – Wissen

Manchmal braucht es einen elend langen Anlauf, um ein Gespräch mit fremden Menschen zu führen. Das gilt gleichermaßen in freier Wildbahn wie am Telefon: Ein innerer Widerstand baut sich auf, jemanden anzurufen oder anzusprechen. Eine Angst, sich zum Deppen zu machen und auf Ablehnung zu stoßen, hemmt. Und ist die innere Handbremse doch gelöst und ein Gespräch zustande gekommen, dann kreist das Grübeln anschließend um den eigenen Auftritt. Ganz gewiss war der vollkommen misslungen! So härtet bald die Ansicht aus, dass der Gesprächspartner von eben gar nicht anders könne, als einen für einen unsympathischen Sonderling zu halten.

Diese Sorge scheint oft unbegründet zu sein. Die meisten Menschen unterschätzen systematisch, wie sympathisch sie auf andere in einer Gesprächssituation wirken. Das berichten gerade Wissenschaftler um Vanessa Oviedo von der University of California, Santa Cruz, in einer Studie im Fachjournal Computers in Human Behavior Reports. Demnach kommen die meisten bei anderen Personen besser an, als sie selbst vermuten. Das gilt, diesen Aspekt fügt die Arbeit der Forschungsliteratur zum Thema hinzu, offenbar unabhängig vom Medium, über das kommuniziert wurde: Egal ob in Textform, per Video-Chat oder in einem wirklichen Gespräch, im Durchschnitt weckten die Teilnehmer in ihren Partnern größere Sympathie, als sie annahmen.

Den grundsätzlichen Effekt haben Psychologen um Erica Boothby 2018 erstmals im Fachjournal Psychological Science beschrieben und auf den Namen „The Liking Gap“ getauft. Diese Lücke zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung des Sympathiewerts identifizierten die Forscher damals unter verschiedenen Bedingungen. Die pessimistische Selbstbewertung hatte nach kurzen sowie langen Gesprächen Bestand und blieb teilweise auch über mehrere Monate einer Bekanntschaft bestehen.

Der innere Kritiker zerreißt jedes Gespräch

Die Bewertungslücke steht im Widerspruch dazu, dass Menschen sonst zu Selbstüberschätzung neigen und ein übertrieben rosiges Selbstbild pflegen. Was also steckt hinter der defensiven Bewertung eigener Liebenswürdigkeit? „Menschen sind sehr stark darauf fokussiert, wie gut sie in einem Gespräch abgeliefert haben“, schreiben die Psychologen um Vanessa Oviedo in ihrer Studie. Ihr Fokus liegt dabei auf ihren schwachen Momenten in einer Unterhaltung: ein Witz, der nicht gezündet hat, eine Geschichte, die schneller zum Punkt hätte kommen müssen, ein Anknüpfungspunkt, der ungenutzt vorbeigezogen ist. Das alles treibt den inneren Kritiker in der Grübelzentrale des Ichs zu Höchstleistungen. Dem Gesprächspartner bleiben diese Punkte hingegen verborgen. Er weiß davon nichts, kann seine Bewertung also auch nicht danach ausrichten.

Es sind die eigenen Ansprüche, die hier für Verkrampfung sorgen und eine übertrieben pessimistische Einschätzung der Reaktionen anderer Menschen antreiben. Vermutlich fallen diese Ansprüche in wenigen Bereichen so streng aus wie in der Interaktion mit anderen. „Eine der größten Ängste im Leben ist jene vor sozialer Bewertung“, schreiben die Psychologen um Boothby. Und aus Angst vor einer schlechten Bewertung beurteilen sich viele Leute vorauseilend übertrieben negativ. Wie schade.