Deutscher Gewerkschaftsbund: „Manche Menschen können am Monatsende den Sprit für den Arbeitsweg nicht mehr bezahlen“

Die Wirtschaftskrise und die wachsende materielle Unsicherheit fördern den Rechtsextremismus, sagt Laura Pooth, Vorsitzende des DGB-Bezirks Nord. Die nächste Bundesregierung müsse ein plausibles Konzept für Wachstum und eine wirtschaftlich tragfähige Energieversorgung vorlegen.

Rund 393.400 Mitglieder aller Gewerkschaften (Stand 2023) vertritt der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) in seinem Bezirk Nord, der die Bundesländer Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern umfasst. Die Bezirksvorsitzende Laura Pooth, 46, sagte WELT AM SONNTAG, welche Wechselwirkungen sie zwischen der Wirtschaftskrise und dem Aufschwung der AfD sieht und warum zu einem wirtschaftspolitischen Neustart der künftigen Bundesregierung auch eine andere Umsetzung der Energiewende gehört.

WELT AM SONNTAG: Frau Pooth, rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien wie die AfD haben in Europa seit Jahren viel Zulauf. Arbeiter und Angestellte, die in Gewerkschaften organisiert sind, hat man früher traditionell eher im linken Teil des politischen Spektrums verortet. Welches Bild der Arbeitswelt haben Sie heutzutage vor Augen?

Laura Pooth: Es liegt in der DNA der Gewerkschaften, gegen Rechtspopulismus zu stehen und rechten Tendenzen entgegenzuwirken. Bei einer Diskussionsveranstaltung kürzlich erst drängte unsere DGB-Jugend darauf, dass wir uns des erstarkenden Rechtsextremismus noch intensiver annehmen. Wir stehen für eine sozial gerechte Politik, und das bleibt auch so. Die derzeitigen Krisen und Unsicherheiten, das Bild davon, dass der Kuchen zu klein ist und nicht mehr für alle ausreicht, das bietet Nährboden für das Erstarken der rechten Parteien. Und dieser Nährboden muss jetzt endlich weg. Das erwarten wir Gewerkschaften von einer künftigen Bundesregierung. Wir brauchen eine Regierung, die endlich ein Konjunkturprogramm auf den Weg bringt, das den Menschen signalisiert: In diesem Land hat jeder eine gute Zukunft vor sich, wir als neue Regierung sorgen dafür, dass es gute und sichere Arbeitsplätze gibt, und niemand muss Angst davor haben, wenn er krank oder alt wird.

WAMS: Wirtschaftliche Instabilität erhöht das Risiko eines immer stärkeren rechten Populismus?

Pooth: Ja, immer mehr Menschen haben doch das Gefühl, dass ihr Alltag nicht mehr funktioniert. Wie bekomme ich mein Kind in einer Kita unter, bleibt mein Arbeitsplatz sicher, wie soll ich meine Energierechnung und meine Lebensmittel bezahlen, bekomme ich noch genug Sprit in den Tank? Wir haben in Mecklenburg-Vorpommern Kolleginnen und Kollegen, die sich am Monatsende krankmelden, weil sie den Sprit für den Arbeitsweg nicht mehr bezahlen können. Gibt es in solchen ländlichen Gegenden einen funktionierenden öffentlichen Personennahverkehr? Nein. Um solche Härten zu verhindern, braucht es einen armutsfesten Mindestlohn von mindestens 60 Prozent des mittleren Lohns. Zurzeit wären das 14,80 Euro pro Stunde.

WAMS: Die aktuellen Probleme der Wirtschaft und des Energiemarktes verantwortet die gescheiterte Ampelregierung aus SPD, Grünen und FDP zumindest mit. Der DGB hat, so klingt es bei Ihnen, für eine künftige Koalition im Bund keine parteipolitischen Präferenzen.

Pooth: Ich erwarte von allen demokratischen Parteien, dass sie gemeinsam überlegen, wie wir eine gute Zukunft für alle Menschen organisieren können und dass sie sich nicht im parteipolitischen Geplänkel verlieren. Der Nährboden für die Rechten muss weg.

WAMS: Auch in vielen Unternehmen wächst die Sorge vor einem erstarkenden Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus in Deutschland.

Pooth: Wir haben bereits gemeinsame Veranstaltungen der Gewerkschaft IG Metall und des Arbeitgeberverbandes Nordmetall gehabt, die sich gegen das Erstarken der Rechten klar positioniert haben. Das war sehr eindrucksvoll. Wir haben viel Potenzial hier im Land selbst, sind aber weiterhin auch auf Zuwanderung angewiesen.

WAMS: Die AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel spricht inzwischen ganz offen von „Remigration“. Was löst das bei Menschen mit Migrationshintergrund in der Arbeitswelt aus?

Pooth: Viele unserer Mitglieder mit Migrationshintergrund haben konkrete Angst bei einem Begriff wie „Remigration“, den Alice Weidel verwendet. Angst und Schrecken zu verbreiten, ist böse und unredlich. Wir haben einen riesigen Bedarf an Arbeits- und Fachkräften – und eben auch für Zuwanderung.

WAMS: Wie sieht die Kernklientel der Gewerkschaften heutzutage aus?

Pooth: Es gibt schon lange kein klares Links-Rechts-Schema mehr und deshalb auch nicht das „typische“ Gewerkschaftsmitglied. Unsere Mitglieder sind vor allem diejenigen, die merken: Wenn ich mich mit vielen zusammenschließe, kann ich etwas bewegen, und ich bekomme Hilfe, etwa juristische Unterstützung bei Problemen mit dem Arbeitgeber. Wir haben bei den Gewerkschaften tendenziell ein Wachstum bei den Mitgliedschaften, auch im Einflussbereich des DGB Nord.

WAMS: Bei allen Konflikten haben deutsche Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen in den vergangenen 25 Jahren grundsätzlich sehr konstruktiv miteinander gestritten und gearbeitet. Kann das verloren gehen?

Pooth: Ich bin nicht sicher, ob es diesen Konsens immer gab. Die Basis dafür ist ja, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber gemeinsam in Tarifverträgen Arbeitsbedingungen festlegen und Kompromisse aushandeln. Wir erleben aber seit geraumer Zeit eine Flucht vieler Arbeitgeber aus der Tarifbindung. Im DGB-Bezirk Nord waren noch vor 20 Jahren 70 Prozent aller Arbeitnehmer durch einen Tarifvertrag geschützt, heutzutage sind es noch etwas mehr als 50 Prozent. Das ist ein Alarmsignal. Uns ist dabei zum Beispiel das Tariftreue- und Vergabegesetz für öffentliche Ausschreibungen sehr wichtig, damit unser aller Steuergelder nicht für Lohndumping verwendet werden.

WAMS: Der jüngste Arbeitskampf bei Volkswagen hat einen Eindruck davon vermittelt, wie hart Verteilungskämpfe zwischen Unternehmen und Arbeitnehmern werden können.

Pooth: Bei Volkswagen hat man gesehen, was passiert, wenn ein Konsens zwischen Unternehmen und Arbeitnehmern wackelt. Der sehr hohe gewerkschaftliche Organisationsgrad im Unternehmen, die „Kampfkraft“ der Arbeitnehmer hat dazu beigetragen, dass am Ende gute Kompromisse ausgehandelt werden konnten. Aber Entwicklungen wie bei Volkswagen sorgen natürlich in die Breite der Arbeitswelt hinein für Verunsicherung. Deshalb brauchen wir unbedingt eine nächste Bundesregierung, die wieder Produktivität, wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand im Land sichert. Und dazu gehört für mich im Kern: weg von der Entweder-oder-Mentalität. Die gesamte Transformationspolitik der Ampelregierung basierte doch auf der Annahme, dass eine Umstellung auf deutlich mehr Klimaschutz automatisch mit Wirtschaftswachstum und Beschäftigungssicherung verbunden sein würde. Das hat sich als falsch erwiesen. Deshalb braucht es eine schonungslose Analyse der bisherigen Transformationspolitik und ein Konjunkturprogramm.

WAMS: Etwa auch mit mehr Subventionen und Staatsverschuldung?

Pooth: Unser mehr als 100 Jahre lang gewachsenes Energiesystem kurzfristig grundlegend umzubauen, kostet riesige Summen. Der Klima- und Transformationsfond der Ampelkoalition wurde vom Bundesverfassungsgericht kassiert. Dabei war es ja im Grunde ein richtiger Ansatz, eine so große Transformation mit einem besonderen Instrument mitzufinanzieren. Wo sind die Vorschläge, wo künftig Geld für eine weitere Transformation herkommen soll? Das hat bislang keine der demokratischen Parteien im Bundestagswahlkampf erklärt. Dieses Entweder-oder – entweder massive staatliche Investitionen in Gesundheit, Bildung, Verteidigung oder aber in Klimaschutz – das können wir uns nicht mehr erlauben. Die nächste Bundesregierung muss beides organisieren. Und sie muss sehr genau darauf achten, ob sich normal verdienende Mensch das leisten können – die Wärmepumpe, das Elektroauto, die Wallbox.

WAMS: Transformation bedeutet auch: starker technologischer Fortschritt in allen Wirtschaftsbranchen und in den Verwaltungen.

Pooth: Wir haben in Schleswig-Holsteins größtem Industriegebiet Brunsbüttel unsere Mitglieder befragt: Was muss geschehen, damit die Transformation gelingt? Die Arbeitnehmer wollen Transparenz darüber haben, wohin sich das Unternehmen entwickeln soll, und wie sich der jeweils eigene Arbeitsplatz dafür verändern muss. Da gibt es keine Ängste vor dem technologischen Fortschritt. Die Arbeitnehmer wollen doch mit der Entwicklung mithalten.

WAMS: Die fortschreitende Automatisierung auf den Hamburger Containerterminals der HHLA war mit langen, zähen Verhandlungen verbunden. Stemmt sich eine Gewerkschaft wie Verdi mit den Betriebsräten gegen eine Automatisierung tradierter, gut bezahlter Arbeitsabläufe im Hafen, oder ist das ein Zerrbild?

Pooth: Das ist ein Zerrbild. Die Gewerkschaften sind ein Motor des technologischen Fortschritts, sie setzen sich damit permanent auch wissenschaftlich auseinander, und sie sorgen dafür, dass das mit der nötigen Qualifikation und Weiterbildung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbunden ist. Bei der HHLA haben Management, Gewerkschaften und Betriebsräte gemeinsam daran gearbeitet, wie man die Frauen und Männer auf den Terminals bei der fortschreitenden Automatisierung mitnehmen kann und muss.

WAMS: Die „Babyboomer“ gehen in Rente, die jüngeren Generationen haben ein ausgeprägteres Bedürfnis nach „Work-Life-Balance“ – also nach im Zweifel geringerer Arbeitszeit.

Pooth: Ich glaube, über die Arbeitsmoral der jüngeren Generationen werden viele Märchen erzählt. Noch nie war eine Arbeitsbevölkerung so heterogen wie heute, auch bei den jüngeren Jahrgängen. Von denen, die sehr intensiv arbeiten bis zu denen mit einer stark ausgeprägten Priorität für das Familien- und Privatleben ist alles dabei. Wir sehen allerdings: Du arbeitest, bis Du umfällst, kannst keine Familie gründen, hast wenig Freizeit und erreichst vielleicht nicht einmal das Rentenalter, das ist das falsche Bild von Erwerbsarbeit. Arbeit strukturiert den Tag, sie soll Spaß machen, Sinn stiften und etwas bewirken. Und sie schließt Familie und Freizeit nicht aus. Das sollte doch das zeitgemäße Bild der Arbeitswelt sein.

WAMS: Welche Potenziale bei der Arbeitskraft kann die deutsche Wirtschaft zusätzlich erschließen?

Pooth: Es gibt große Potenziale bei Langzeitarbeitslosen ebenso wie bei der Einwanderung von Arbeitskräften. Auch ältere Menschen und solche mit Behinderungen dürfen wir nicht alleinlassen, sondern müssen sie in die Arbeitswelt zurückholen oder sie dort halten, wenn sie es wollen. Hinzu kommt: Viele jüngere Menschen – speziell auch aus schwierigen Verhältnissen – finden nach der Schule keinen Zugang zu weiterer Bildung oder zum Arbeitsmarkt. Junge Menschen ohne Schulabschluss und Berufsausbildung, das ist eine riesige Stellschraube, die wir bewegen müssen. Ich habe mich als Vorsitzende der Gewerkschaft GEW in Niedersachsen zehn Jahre lang nur mit Bildung beschäftigt. In meiner heutigen Funktion sehe ich: Die Politik bekennt sich ständig dazu, aber Bildung hat bei Weitem nicht den Stellenwert, den sie haben müsste, das beginnt in der Kita und setzt sich in den Schulen fort.

WAMS: Wie finden Sie Hamburgs Fortbildungs- und Integrationsprogramme für Jugendliche ohne Schulabschluss und Berufsbildung?

Pooth: Ich finde sie vorbildlich. Hamburg hat im Vergleich zum Beispiel zu Schleswig-Holstein mehr positive Impulse im Bildungssystem geschaffen. Alle deutschen Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten haben sich 2009 mit Bundeskanzlerin Angela Merkel darauf geeinigt, zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes für die Bildung auszugeben. Mehr als 15 Jahre später sind wir bei vier Prozent des BIP, die für Bildung ausgegeben werden. Wir müssen jetzt klotzen, nicht kleckern. So viele Menschen wie möglich ohne Schulabschluss und Berufsausbildung müssen für den Arbeitsmarkt gewonnen werden. Hamburg hat viel dafür getan, an solche Menschen heranzukommen.

WAMS: Tun die Arbeitsagenturen genug dafür, um Langzeitarbeitslose wieder in Erwerbsarbeit zu bringen?

Pooth: Ich bin im Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit und sehe, wie intensiv an dem Thema gearbeitet wird, die Arbeitsagenturen stärker auch auf die Weiterqualifizierung hin auszurichten. Am Ende ist das aber auch eine Frage der finanziellen Mittel.

WAMS: Welche Regionen im DGB-Bezirk Nord sind wirtschaftlich besonders robust und resilient für all diese Herausforderungen?

Pooth: Wir haben das Potenzial und die Chance, dass Norddeutschland eine weltweit anerkannte Modellregion bei der Energiewende werden kann. Wir als DGB Nord wollen dazu beitragen, dass dieses Potenzial genutzt wird. In der Region Ostholstein des DGB-Bezirks Nord sind wir heutzutage Schlusslicht West in ganz Deutschland bei den durchschnittlichen Löhnen und in der Region Vorpommern-Rügen bei den Löhnen Ost. Wir müssen raus aus diesem Lohnkeller, unter anderem auch mit neuen Industrieansiedlungen.

WAMS: Wie soll das künftig besser funktionieren als während der vergangenen Jahre?

Pooth: Die fünf norddeutschen Länder müssen eine abgestimmte Transformationsstrategie auf den Weg bringen, um die Energiewende, gepaart mit sicherer, bezahlbarer Energieversorgung und mit guten, tarifgesicherten Arbeitsplätzen voranzubringen. Dafür muss viel stärker abgestimmt werden: Wo sind die Abnehmer der Energie, wo sind die Speicherkapazitäten, wie werden die Netze vernünftig ausgebaut? Auch an diesen Fragen werden wir als DGB-Nord dranbleiben.

Laura Pooth, 46, arbeitete von 2004 bis 2017 als Lehrerin in Niedersachsen. Nach einem ergänzenden Studium der Supervision und Organisationsberatung war sie von 2011 bis 2017 stellvertretende Vorsitzende des Landesverbandes Niedersachsen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und von 2017 bis 2021 dessen Vorsitzende. Seit 2021 leitet die gebürtige Göttingerin den Bezirk Nord des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) mit den Bundesländern Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. Pooth, Mitglied unter anderem der SPD und der Gewerkschaft IG Metall, sitzt im Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit und im Aufsichtsrat des Lübecker Medizintechnik-Unternehmens Dräger.

Olaf Preuß ist Wirtschaftsreporter von WELT und WELT AM SONNTAG für Hamburg und Norddeutschland. Er berichtet unter anderem auch über die Gewerkschaften und die Branchenverbände.