
Es braucht Mut und
etwas Unverschämtheit, einen als unverfilmbar geltenden Klassiker der
Weltliteratur zu verfilmen. Bei zu viel Demut im Umgang mit der Vorlage
schimpfen Fans und Kritiker: Nichts gewagt! Entfernt man sich zu weit von ihr,
heißt es: Das hat aber jetzt nichts mehr mit dem Buch zu tun!
Walzt man dann noch den
Stoff fürs Serienformat episch aus, ist die Absturzgefahr groß. Dennoch kann
das Ganze gut gehen, das hat der Streamingdienst Netflix erst jüngst mit der
Verfilmung von Gabriel García Márquez‘ Hundert Jahre Einsamkeit
bewiesen: weggetreu, bildgewaltig, atmosphärisch dicht. Und das bei einem
Roman, der durch die Sprache, die mythologische Tiefe und den magischen
Realismus alles andere als leicht zu lesen ist. Nun also die zweite
Literaturverfilmung als Netflix-Sechsteiler: Giuseppe Tomasi de Lampedusas Der
Leopard. Der Sizilien-Klassiker über das Leben und vor allem Sterben von
Don Fabrizio Corbera, Fürst von Salina.
Noch ein National- und
Familienepos über eine untergehende Welt. Und doch ist Der Leopard ganz
anders als Hundert Jahre Einsamkeit. Zugänglicher und eher melancholisch
als fantastisch beschwört der Roman das Sizilien kurz vor der Gründung des
Königreichs Italien im Jahr 1861. Die bourbonischen Eliten haben ausgedient,
die Pracht von einst verliert ihren Glanz. Auf den ersten Blick ein gut zu
verfilmender Stoff. Wäre da nicht die alles überstrahlende Fassung Luchino
Viscontis von 1963, sie gilt heute als eine der besten Kinoproduktionen aller
Zeiten. An diesem Brett von einem Film wird jede Neuinterpretation gemessen,
auch die Netflix-Version. Gedreht wurde sie, wie schon der Visconti-Leopard, auf Italienisch und an Originalschauplätzen in Palermo, Syrakus, Catania und
Rom.
Regisseur Tom Shankland
ist sich der Größe der Fußstapfen, in die er tritt, sichtlich bewusst.
Massenszenen, eine Kostümorgie, endlose Bälle, traumhaft schöne Landschaften,
bröckelnde Palazzi und dazwischen Nahaufnahmen von verrottendem Obst und
allerlei andere Vergänglichkeitssymbole: das ist typisch Visconti. Auch Saul Nanni, der den zwielichtigen Galan Tancredi, den
Neffen des Fürsten, spielt, wurde wohl von Netflix ausgesucht, weil er Alain
Delons Tancredi aus Viscontis Leopard verblüffend ähnelt, nur halt in blond.
Doch diese Verbeugung ist dann doch etwas zu tief: Nanni fehlt das diabolisch
Abgründige und zugleich jugendlich Verspielte, das den jungen Delon so
einzigartig machte. Sein Tancredi schaut mit dem immergleichen
Schlafzimmerblick den weiblichen Hauptfiguren hinterher, also Concetta, der
Fürstentochter (gespielt von Benedetta Porcaroli) und Angelica (Deva Cassel), einer durchtriebenen Schönheit
niederer Abstammung. Um sie drechselt das Drehbuch eine im Roman und auch bei
Visconti gar nicht so wichtige Dreiecksgeschichte über falsche Verliebtheiten.
Das hat
bisweilen etwas Schmonzettenhaftes, da die beteiligten Figuren nur Typen, aber
keine Charaktere sein dürfen: der Verführer, die Tugendhafte, die Femme fatale.
Doch selbst das wäre nicht schlimm, wäre wenigstens Fürst Salina, um den es im Leopard
geht, ein Charakterkopf. Bei Visconti spielt Burt Lancaster den Don Fabrizio
als sich nur mit Mühe gerade haltenden Patriarchen, dessen Gesichtsfurchen
darauf hindeuten, dass er bereits vor Drehbeginn viel gelitten haben muss. In
der Netflix-Fassung gibt Kim Rossi Stuart den Fürsten. Zuerst ist dieser ein
wütender Kraftmeier mit nur einer offensichtlichen Schwäche: Er liebt Concetta
und Tancredi abgöttisch, während der leibliche Sohn nur den Kopf gewaschen
bekommt. Mit patriarchaler Grandezza regiert und repräsentiert er und baut
überschüssige Energie beim Ehebruch mit der Lieblingsprostituierten ab. Erst im
Laufe der Zeit und durch allerlei Intrigen, die nicht weiter interessieren,
bekommt der Fürst einen traurigen Hundeblick, der den Zuschauer für ihn
einnehmen soll.