Das Muzeum Susch zeigt die Künstlerin Ilona Keserü

Auch die Jahrhundertzeugen unter den Künstlern, die über lange Zeiträume hinweg permanente Wechsel von Stilen und Gesellschaftssystemen miterlebten, werden durch die Überalterung der Gesellschaften immer häufiger und selbstverständlicher. Was die im „Westen“ kaum bekannte ungarische Künstlerin Ilona Keserü mit ihren einundneunzig Jahren im Engadiner Muzeum Susch zu sagen hat, ist dennoch alles andere als trivial. Während es in Polen selbst in Ostblockzeiten für Künstler möglich war, sich abstrakt auszudrücken, wie es etwa die monumental raumfüllenden roten Schwebestoffe der „Abakane“ Magdalena Abakanowicz’ aus den Sechziger- und Siebzigerjahren belegen, war abstrakte Kunst in Ungarn seit dem Aufstand 1956 bis zur Perestroika offiziell verboten.

Dumm nur, dass dieses Verbot an einer so selbstbewussten wie nonkonformen Künstlerin wie Keserü abperlte wie auf Teflon und sie gerade von den Fünfzigern an im Studium beim Budapester Professor Ferenc Martyn mit der gesamten französischen Abstraktion in Berührung kam. Das früheste im Muzeum Susch ausgestellte Werk von 1954 trägt zwar noch den konkret-gegenständlichen Titel „Seegras“, doch scheint eine kräftige Meeresbrise das selbige zum formbefreiten Fließen gebracht zu haben. Noch erstaunlicher und eigentlich nur durch den vorhergeahnten Systemzusammenbruch erklärbar sind ihre völlig abstrakten Fresken für das Hochschulinstitut für Atomkraft in Budapest 1988, auf denen die Kernfusion abstrakt durch eine „Sonne“ und einen Keil symbolisiert ist und ansonsten Neutronen und Moleküle mit den Elementen in Pop-Art-Farben kämpfen und alles im Fluss ist.

Alles fließt

Nur konsequent heißt die Ausstellung „Flow“. Sie könnte keinen geeigneteren Präsentationsort haben als das 2019 eröffnete Museum der polnischen Unternehmerin Grażyna Kulczyk, das der Architekt Chasper Schmidlin – ehemals für Herzog & de Meuron an der Tate Modern in London tätig – in die malerischen baulichen Hüllen eines mittelalterlichen Klosters mit Brauereiturm einfasste und unterirdisch stark erweitert in den Berg graben ließ. Das Engadiner „Muzeum“ ist eine Architekturikone wie Frank Lloyd Wrights amerikanisches Hanghaus „Fallingwaters“, durch das ein Wasserfall rauscht, nur dass Susch ein nach innen geholtes Fallingwaters ist, da das für die einstige Brauerei nötige Wasser noch immer unausgesetzt in einem meditativen Felssaal im Innern über die in den Berg gesprengten rauen Amphibolit-Wände rinnt – selbst für die Schweizer Tunnelmaulwürfe eine Herausforderung, weil es das härteste Gestein in der Eidgenossenschaft ist. Der Felssaal mit Wasserfall jedoch passt vorzüglich zu Keserüs mit den Elementen und vor allem dem Wasser spielenden Arbeiten.

Dieses unbändige Fließen, auf Keserüs Bildern meist durch stark stilisierte Wellenbögen ausgedrückt, zieht sich ebenso durch die sieben Jahrzehnte ihres Schaffens wie das Motiv der strahlenden Sonne. Der Begriff „Bilder“ ist dabei relativ – handelt es sich doch oft um Leinwände nur noch als Träger wilder dreidimensional in den Raum ragender Assemblagen aus Textil und starkfarbigen Metallblechen oder wie in „Double Forms“ von Rupfen. Zwei biographische Fakten verstärken das noch: 1962 prägt eine erste Italienreise und die gesehenen konvex-konkav nach innen und außen schwingenden Wellenbauten des Barockarchitekten Borromini Keserü zutiefst, sodass sie den innigen Wunsch verspürt, diese Baukunst des unausgesetzten Schwingens in Malerei zu übersetzen. Dabei laufen die Wellen auf den Bildern oft gegenläufig, wirken wie Funkwellen oder scheinen sich wie die Amplituden eines Herzkardiogramms zu überlagern. Tatsächlich finden sich in vielen von Keserüs Bildern stilisierte Herzformen, die sie wie der rumänische Bildhauer Constantin Brâncuși zuvor aus folkloristischen Formen destilliert: Es handelt sich um die abstrakt herzförmigen Grabsteine eines Friedhofs aus dem 18. Jahrhundert am Plattensee, die Keserü in ein energetisch aufgeladenes Ornament verwandelt und als ebenfalls wallenden Fries in ihre Bilder wie Intarsien der Zugeneigtheit einsetzt.

Zeltbahnen als Schwebstoffe

Im großen Hauptsaal des Museums findet beides – Elementenkunst und Wellenform – in einer Art Zelt aus einer ehemaligen Performance zusammen, dass sich nicht nur spiralförmig in der Urform der Nautilusmuschel fortsetzt, sondern auch im sanften Verlauf der Abtönungen der Stoffbahnen Gottfried Sempers Farb- und Zelttheorie aufzugreifen scheint. Der Baumeister und -theoretiker entwickelte erstere in seinem Werk „Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten“ von 1860 unter anderem für die Psychologisierung von Räumen, insbesondere in Museen, während seine Zeltthese besagt, alle Architektur gehe aus der behütenden Urform des Zeltes und seines Stoffes hervor, der von den Baukünstlern in den folgenden Jahrtausenden nur immer leichter und schwereloser gestaltet wurde.

Im „Turmgemach“ des Hauptbaus hängt neben vier Collagen, die Vaginalformen mit den Balaton-Herzgrabsteinen verschneiden, auch das Großformat „Old Clothes“. Die alten Klamotten werden durch Lappen, einen schwebenden Vorhang, Haare und Gras sowie eine farbstarke Palette schichtig zu einem Basar der reichsten Stofflichkeiten auf der ebenfalls gewebten Leinwand aufgetürmt.

Nonkonformität als Konstante

Den buchstäblich krönenden Abschluss bildet das zweite Turmzimmer. Hier ist Keserüs abstrakteste und vielleicht zugleich politischste Serie der „Details in Message“ aus den Siebzigern sowie vier Großformate von 2022 zu sehen, die in vielfach größeren Abmessungen die Formen der alten Bild-„Botschaften“ rekapitulieren. Ihren Ausgangspunkt nehmen die quietschbunten, offensichtlich codierten Formen in den überwiegend viergeteilten Kompositionen im niedergeschlagenen Ungarnaufstand vom August 1968. Keserü wurde sich schmerzlich bewusst, wie die angedrohte Gewalt ihr die Sprache „verschlug“, und dass sie über das Gesehene und Erlebte nicht würde reden können. Die geschwungenen, wie dirigierten Code-Formen von 1970 an repräsentieren demnach auf einer ersten Ebene Keserüs Räsonieren über die Natur der Sprache, durchaus nicht nur der ungarischen, vielmehr aller Sprachen der Welt, von denen durchweg jede an der Unmöglichkeit leidet, alles ausdrücken zu können. Die Frage nach Gründen der Wiederaufnahme dieser Bildserie fünfzig Jahre später in einer weniger repressiven Welt erklärt Keserü damit, dass gerade die heutige Informationsflut des Internets und der Medien, die alles Wissen der Welt jederzeit und allerorten verfügbar auf die Menschen abfeuern, erneut viele empfindsame Gemüter zum Schweigen bringt. Ohne es zu sagen, denkt sie damit den Philosophen Wittgenstein in Richtung eines „Worüber man sich keine Übersicht verschaffen kann, darüber muss man schweigen“ weiter. In jedem Fall erscheint ihr der selbst entwickelte Farb- und Formencode ein nicht ungeeigneter Weg der Kommunikation – im Sich-Verständigen – auch über Bilder.

Dass der geistig wie künstlerisch regen Keserü – erst aus dem Jahr 2007 stammen etwa ihre quirlig bunten Möbiusbänder in Titan – der nonkonforme Geist aus Sowjetzeiten nicht abhanden kam, erweist beispielsweise ihre unveränderte Kunstmarktverweigerung. In Susch hängt sie nun ein knappes Dutzend Bilder in mehreren Schichten überschnitten hintereinander und lässt sie dadurch unverkäuflich werden, da kein Sammler die Katze im Sack kaufen und ein nur zu einem Viertel zu sehendes Bild erwerben würde. Nicht zuletzt verweist die Künstlerin damit auf die langen Jahre vor 1989 fast ohne Verkäufe, in denen sie gewissermaßen „auf Halde“ malte. Verdrießen ließ sich Keserü darob nie, sodass der Besucher ein frisches Œuvre aus sieben Dekaden zu sehen bekommt, dass vor Energie nur so überströmt.

Ilona Keserü. Muzeum Susch, Susch; bis zum 26. Oktober. Der Katalog kostet 32 Euro.