
Die deutschen Krankenhäuser stehen vor einer massiven Herausforderung. Ein einziges Klinikbett benötigt laut Stiftung Viamedica so viel Energie wie vier Einfamilienhäuser. Hinzu kommen tonnenweise Verpackungsmüll, Lebensmittelabfälle und vor allem Bürokratie. „Alle haben Angst, etwas zu vergessen und dokumentieren sich zu Tode“, sagt Jochen Werner. „Das frisst uns auf.“ Im „Klima-Labor“ warnt der Chef der Universitätsmedizin Essen „nicht nur wegen steigender Energiekosten“ vor einem ökonomischen Abwärtsstrudel des Krankenhaussystems. Seine Lösung klingt radikal: Man baut lieber neue Krankenhäuser auf einer grünen Wiese, statt alte mühsam zu sanieren – so bringt man Klimaschutz, medizinische Versorgung und das Wohlbefinden der Patienten am besten unter einen Hut.
ntv.de: Wie oft bekommen Sie beim Blick auf Ihre Stromrechnung Kopfschmerzen?
Jochen Werner: Gute Frage. Energiekosten werden von kaufmännischer Seite eng begleitet, es wird immer geschaut, wie lange die Verträge laufen und ob es günstigere Optionen gibt. Tatsächlich ist die Energieversorgung ein wichtiger Faktor im Krankenhaus, aber der Gesamtapparat ist größer: beispielsweise die Bereiche Lebensmittel, Müll oder Einmalverpackungen. In Deutschland entfallen 5,2 Prozent der nationalen Emissionen auf das Gesundheitswesen. Krankenhäuser sind ein großer Treiber. Deshalb setzen wir speziell dafür Mitarbeitende ein.

Prof. Dr. Jochen A. Werner ist seit 2015 Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender der Universitätsmedizin Essen. Ende März verabschiedet sich der Mediziner und Krankenhausmanager in den Ruhestand.
(Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress)
Sie haben eine Abteilung, die sich nur mit Nachhaltigkeit und Einsparpotenzialen beschäftigt?
Wir haben eine Nachhaltigkeitsmanagerin, bei der alles zusammenläuft, und ein sogenanntes Team Green, das zuarbeitet und von unseren Nachhaltigkeitsbeauftragten Informationen erhält. Insgesamt sind es deutlich mehr als 100 Personen. Unsere Belegschaft engagiert sich sehr, alles andere ist ein Kostenfaktor, dem man sich verpflichten muss. Das haben wir getan.
Wie zufrieden sind diese Menschen mit dem Erreichten? In Deutschland hat sich viel Frust angestaut, weil es nicht vorangeht. Es gibt Beschwerden über Verwaltungen und Bürokratie.
Das ist der Kern: Wie zufrieden ist man mit Krankenhäusern? In Deutschland erlebe ich viele Menschen, die aus 1000 unterschiedlichen Gründen unzufrieden sind. Das kann man nicht auf Themen wie Energie, Klima oder Nachhaltigkeit reduzieren. Ein Krankenhaus können Sie nicht ohne den Faktor „Bürokratie“ denken. Bürokratie bedeutet Verlangsamung und extreme Belastung über alle Bereiche, ob in der Pflege, im ärztlichen Dienst oder in anderen Berufsgruppen. Das ist die Realität. Dies wird inzwischen auch in der Breite erkannt.
Die Geschichte der Universitätsmedizin Essen reicht bis ins Jahr 1905 zurück. Heute umfasst der Komplex mehr als 27 Kliniken und 24 Institute in rund 60 Gebäuden. Dort versorgen mehr als 8000 Mitarbeiter jährlich rund 55.000 stationäre und 300.000 ambulante Patienten. Der Energieverbrauch ist enorm: Ein einziges Klinikbett benötigt pro Jahr etwa so viel Energie wie vier Einfamilienhäuser, das gesamte Klinikum verbraucht so viel Strom wie 10.000 Einfamilienhäuser.
Woran hakt es bei Ihnen konkret?
Es hakt weniger bei uns als beim Gesetzgeber, der uns die Luft zum Arbeiten nimmt. Alle haben Angst, etwas zu vergessen, und dokumentieren sich zu Tode. Es fehlt am Mut, wirklich etwas verändern zu wollen. Das frisst uns auf.
Und Ihr Nachhaltigkeitsteam mit mehr als 100 Menschen ist keine zusätzliche Belastung?
Auf keinen Fall. Hätten wir allerdings für jede Idee neue Berichte, Formulare und Dokumentationspflichten eingeführt, die jeder und jede Nachhaltigkeitsbeauftragte bei Planungsrunden vortragen muss, wären alle zusätzlich belastet. Bei einer Dachbegrünung kann man komplizierte Anträge formulieren und das Thema ist beendet. Oder man fängt wie wir einfach klein an. Natürlich muss man Vorgaben beachten, Argumente und Konsequenzen abwägen, aber das machen die Verantwortlichen ohnehin. Wir möchten keine zusätzlichen Hindernisse aufbauen.

Die Ruhrlandklinik gehört ebenfalls zum Uniklinikum Essen. Sie zählt zu den führenden medizinischen Institutionen für die Behandlung von Atemwegs- und Lungenerkrankungen. Die Dächer wurden erfolgreich begrünt.
(Foto: imago images/Hans Blossey)
Mit welchem Ziel?
Wir wollen ein smartes, grünes und menschliches Krankenhaus sein. Wie bekommt man das hin? Man muss digitalisieren, Daten erheben und diese nutzen. Dafür muss man die Menschen begeistern und mitnehmen. Es mag lächerlich klingen, aber es muss in die Köpfe rein, dass man das Licht ausmacht, wenn man einen Raum verlässt, und versucht, weniger Lebensmittel wegzuschmeißen. Unser Nachhaltigkeitsteam passt auf solche Dinge auf und erklärt, warum sie sinnvoll sind. Für mich sind diese Verhaltensänderungen eine Bewegung. Dafür muss man keine Bögen ausfüllen. Diese Dinge werden beim Streit um Wärmepumpen und anderes gerne unterschätzt.
Und das führt zu größeren CO2-Einsparungen?
Ich bin dagegen, Klimaziele herauszuposaunen und sich zu feiern, weil man soundsoviel CO2 eingespart hat. Wir wissen doch gar nicht, was für eine Klinik wie unsere gut oder schlecht ist. Dafür fehlen uns die Daten. Ein Gutachten im Auftrag der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen hat ergeben: Was müssten die Unikliniken tun, um bis 2045 klimaneutral zu werden? Dazu gehört etwa eine Veränderung der Gebäudehüllen, der Wärme- und der Kälteerzeugung. Die sechs nordrhein-westfälischen Unikliniken müssten dafür 740 Millionen Euro aufwenden. Das wären etwa 6 Millionen Euro pro Klinik im Jahr.
Dieses Geld haben Sie nicht?
Genau. Wie geht man damit um? Jeder muss seine Hausaufgaben machen. In Essen haben wir erst einmal den Stand der Dinge erhoben und geschaut, was wir machen können. Dann haben wir im Vorstand entschieden, Ökostrom zu beziehen, obwohl er teurer ist. Wir wollten ein Signal aussenden und glaubhaft werden. Das passiert bei verschiedenen Themen.
Wie wird eine Uniklinik eigentlich finanziert?
Die Kostenträger erstatten Geld. Für jede Behandlung und jeden Patienten bekommt man einen Betrag von den Krankenkassen. Die Einnahmen und Ausgaben sind über die Jahre aber in Schieflage geraten – nicht nur wegen steigender Energiekosten, das betrifft auch das Personal. Ich möchte höhere Löhne keinesfalls schlechtreden, aber denen stehen eben keine zusätzlichen Einnahmen gegenüber. Die Krankenhäuser befinden sich wegen verschiedener Faktoren in einem ökonomischen Abwärtsstrudel. Deswegen geht es dem System immer schlechter.
Gibt es einen zusätzlichen Topf, aus dem Sie Geld beantragen können, wenn die Klinik auf Ökostrom umstellt, die Fassade dämmt oder das Dach begrünt wird?
Ja, das Land beziehungsweise der Träger kommen für bestimmte Baumaßnahmen auf. Außerdem können Fördermittel beantragt werden. Aber jedes Krankenhaus ist erst einmal mit dem Gebäude beschäftigt, das es hat.
Wie alt ist Ihre Klinik?
Einige Bestandteile sind viele Jahrzehnte alt, andere entstehen gerade erst. Vom Bauplan bis zur Umsetzung dauert es aber oft acht oder zehn Jahre, manchmal sogar noch länger. Man muss also alle möglichen Auswirkungen auf die Umwelt mitplanen. Wir bauen jetzt also Gebäude …
… bei denen man Themen wie die Gebäudehülle nicht auf dem Zettel hatte?
Richtig. Es wird vielfach versucht, alte Krankenhausgebäude zu erhalten. Das ist an der einen oder anderen Stelle vielleicht ein Fehler. Sanierungsbedürftige Bauten sind schwierig und kostenintensiv. Deswegen kommt man auf die hohe Summe von etwa 6 Millionen Euro an Investitionen pro Jahr. In vielen Fällen wäre es sinnvoller, ein neues Krankenhaus auf einer grünen Wiese zu bauen – fokussiert auf Funktionalität, menschliche Bedürfnisse und Nachhaltigkeit.
Gilt das auch für Ihre Klinik?
Ich weiß nicht, was in 20 Jahren ist, aber wenn die Möglichkeit besteht, wäre ein Neubau aus vielen Gründen sinnvoll. Es kann nicht sein, dass sich nur ein Teil der Patienten wohlfühlt. Es passt auch medizinisch nicht, dass ein Gebäude modern ist, während das andere zu verfallen droht. Das Krankenhaus der Zukunft ist in meinen Augen zudem nicht ohne Robotik denkbar. Wie soll Robotik in älteren Krankenhäusern mit allen möglichen Treppenaufgängen und Verwinkelungen funktionieren?
Wofür werden Roboter benötigt?
Um effizienter arbeiten und Lücken im Arbeitskräftemangel schließen zu können. Ich will nicht die Arbeitskraft ersetzen, aber unser Labor nimmt jedes Jahr mehr als neun Millionen Untersuchungen vor. Für bestimmte Prozesse finden wir kein Personal mehr. Stattdessen erledigt jetzt ein Roboter die Sortierung oder einfache Transporte. Robotik ist für viele Dinge praktisch.

Der Neubau des OP-Trakts für Augen- und HNO-Eingriffe kostete fast 70 Millionen Euro. Laut Uniklinik Essen handelt es sich um die derzeit modernsten Operationssäle in Deutschland und in Europa.
(Foto: picture alliance/dpa)
Das sind unbezahlte Praktikanten für die Fleißarbeit?
Abgesehen von den Beschaffungs- und Unterhaltungskosten, ja. In einem modernen Krankenhaus sind auch der OP und der Intensivbereich unmittelbar miteinander verzahnt. Das muss möglichst konzentriert sein, nicht an fünf unterschiedlichen Stellen. Wie wollen Sie das in einem alten Krankenhaus realisieren? Ein Neubau ist oftmals besser, als über 30 Jahre schrittweise einen Altbau zu sanieren – zu enormen Kosten, aber ohne den Effizienzgewinn, den man erwartet. Deswegen ist auch die Krankenhausreform essenziell: Wir haben in Deutschland zu viele Krankenhäuser mit zu vielen Betten. Es ergibt keinen Sinn, in jedem Krankenhaus jedes Krankheitsbild behandeln zu wollen. Das bedeutet nicht, dass man nur kleine Häuser schließen sollte oder das einzige Krankenhaus auf dem Land. Es gibt auch in Großstädten und Ballungsräumen zu viele Kliniken.
Werden Aspekte wie Emissionen bei der Krankenhausreform mitgedacht?
Im Rahmen der Reform eher nicht, aber solche Themen müssen ohnehin in allen Gremien diskutiert werden. Nehmen Sie das Essen: Im Krankenhaus wird Patienten ein mehr oder weniger ansehnliches Tablett serviert. Alle geben sich Mühe, aber dafür ist wenig Geld vorhanden. Manchmal denke ich: Meine Güte! Trotzdem kann man sich Gedanken über eine gesunde Ernährung machen. Wir möchten die Currywurst nicht verdammen, aber wir haben uns für die Stärkung einer pflanzenbasierten Ernährung entschieden. Die heißt aber nicht „vegetarisch“, sondern „mediterran“.
Das klingt besser?
Genau. Die Akzeptanz ist eindeutig gestiegen. Das neue Angebot und bedarfsgerechte Portionen von Treibhausgas-intensiven Lebensmitteln wie Butter haben auch dabei geholfen, Abfälle zu reduzieren: Unserer Analyse zufolge sind sie innerhalb von sechs Monaten um etwa 27 Tonnen gesunken. Das entspricht nicht nur 40 Tonnen CO2-Äquivalenten, sondern spart schätzungsweise auch 90.000 Euro.
Mit Jochen A. Werner sprachen Clara Pfeffer und Christian Herrmann. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Das komplette Gespräch können Sie sich im Podcast „Klima-Labor“ anhören.
Was hilft wirklich gegen den Klimawandel? Das „Klima-Labor“ ist der ntv-Podcast, in dem Clara Pfeffer und Christian Herrmann Ideen, Lösungen und Behauptungen auf Herz und Nieren prüfen. Ist Deutschland ein Strombettler? Vernichtet die Energiewende Industrie & Arbeitsplätze? Warum erwarten so viele Menschen ihren ökonomischen Abstieg? Warum sind immer die Grünen schuld? Sind Seeadler wirklich wichtiger als Windräder? Kann uns Kernkraft retten?
Das Klima-Labor von ntv: Jeden Donnerstag eine halbe Stunde, die informiert, Spaß macht und aufräumt. Bei ntv und überall, wo es Podcasts gibt: RTL+, Amazon Music, Apple Podcasts, Spotify, RSS-Feed
Sie haben Fragen an uns? Schreiben Sie eine E-Mail an podcasts@ntv.de oder nehmen Sie Kontakt zu Clara Pfeffer und Christian Herrmann auf.