Betrugsmasche: Die Polizei ist Schockanrufern in Deutschland und Polen auf der Spur. – Gesellschaft

Nun muss Kowalski es ihm nur noch gerichtsfest nachweisen.

In dem ruhigen Vorort von Posen, drei Autostunden von Berlin, trödeln Kinder aus der Schule nach Hause. Jan Kowalski, Militärhaarschnitt, Kapuzenpulli und Bauchtasche, macht noch eine kleine Rundfahrt. Er heißt in Wahrheit anders, sein echter Name soll geheim bleiben, um seine Familie zu schützen. Mit dem Auto klappert Kowalski an diesem Tag insgesamt ein halbes Dutzend Luxusvillen ab, die er seit Monaten im Blick hat. Die Oberhäupter mehrerer mutmaßlich krimineller Großfamilien leben hier fast Tür an Tür.

Posen gilt als Hotspot für die wohl lukrativste und perfideste Betrugsmasche unserer Zeit: den Schockanruf. Er kostet ältere Menschen in Deutschland jedes Jahr mehr als hundert Millionen Euro, die Dunkelziffer ist hoch, die Tendenz stark steigend. Ermittler in Deutschland und Polen sind sich sicher, dass ein großer Teil der Beute über verschlungene Wege hier landet, in den mondänen Anwesen, die denen von Fußballprofis in München-Grünwald in nichts nachstehen.

Über die Masche wurde in den vergangenen Jahren so viel berichtet, dass man kaum glauben mag, wie gut sie immer noch funktioniert: Ein Anruf von einer unbekannten Nummer, am anderen Ende meldet sich meist eine weinende junge Frau: „Mama, ich habe ein Kind totgefahren!“ Oft nimmt dann ein vermeintlicher Polizist oder Staatsanwalt das Telefon an sich und verlangt Zehntausende Euro „Kaution“. Andernfalls gehe die Tochter ins Gefängnis.

<strong>Nicht nur der materielle Verlust belastet die Opfer – auch das Entsetzen über die eigene Gutgläubigkeit</strong>

Über die Verheerungen, die dieser Trick anrichtet, kann man täglich in der Zeitung lesen. Allein an einem einzigen Tag im März überreicht zum Beispiel eine 84-jährige Frau in Berlin-Charlottenburg 75 000 Euro in bar einem vermeintlichen Polizisten. In Leonberg, Baden-Württemberg, gibt eine 86-Jährige Schmuck und Gold im Wert von 20 000 Euro einem Unbekannten. In Wipperfürth, Nordrhein-Westfalen, verliert eine 85-Jährige einen hohen vierstelligen Betrag. Ein Tag, hunderttausend Euro Schaden. Und das ist nur der, von dem die Polizei erfährt.

Es ist ein Verbrechen, von dem selbst gestandene Kommissare sagen, dass es sie oft zu Tränen rührt: etwa, wenn sie einer Seniorin eröffnen müssen, dass sie soeben die Ersparnisse ihres ganzen Lebens freiwillig einem Kriminellen ausgehändigt hat. Nicht nur der materielle Verlust belastet die Opfer – auch das Entsetzen über die eigene Gutgläubigkeit: „Die Schuldgefühle bei den Betroffenen sind immens“, sagt eine Mitarbeiterin der Opferhilfe Berlin.

Es ist auch ein Verbrechen, das in die Zeit passt. Die Boomer-Generation, die jetzt um die 70 ist, hat sich so viel Vermögen erarbeitet wie keine vor ihr. Gleichzeitig leben ältere Menschen immer seltener mit jüngeren zusammen. In der Schnittmenge aus Wohlstand und sozialer Isolation machen Trickbetrüger ein blendendes Geschäft.

Bis vor wenigen Jahren war der klassische Enkeltrick noch die gängige Masche. Dabei meldet sich ein junger Mann am Telefon und braucht vermeintlich dringend Geld, etwa für einen Autokauf. Seitdem haben die Betrüger ihr Vorgehen optimiert. Mit Schockanrufen nutzen sie die psychische Reaktion aus, die wohl jeder Mensch hat, wenn ein naher Angehöriger in Gefahr schwebt: Ich muss helfen! Beratungsstellen können noch so viele Flyer verteilen und Infoabende organisieren: Der „massive psychologische Druck“ überwältige in so einer Situation viele, sagt ein Präventionsbeauftragter des Weißen Rings. 2022 berichtete sogar der bekannte Kriminalpsychologe Christian Pfeiffer, er sei um ein Haar zum Opfer geworden. Er war immerhin mal Justizminister in Niedersachsen.

Ein erfahrener deutscher Ermittler sagt, er sei immer wieder erstaunt, welche perfiden Methoden die Gegenseite entwickle. Teils ließen die Täter es mithilfe einer Software so aussehen, als riefen sie von der Telefonnummer 110 an. „Wer würde da schon einen falschen Polizisten vermuten?“ Andere werten Todesanzeigen in Zeitungen aus und rufen dann am Tag der Beerdigung die Witwe an: Sie geben sich als Enkel aus und berichten, dass sie auf dem Weg zur Trauerfeier einen schlimmen Unfall gehabt hätten. Mehr emotionaler Druck geht kaum.

Hinter verschlossenen Rollläden wählt ein Anrufer etwa  400 Nummern am Tag

Der polnische Polizist Jan Kowalski hat vor ein paar Monaten mit seiner Einheit fünf Frauen und Männer der kriminellen Organisation festgenommen, deren mutmaßlicher Chef in der observierten Villa residiert. Sie hatten in einem Bungalow ein kleines Callcenter eingerichtet. Sechs Stunden täglich telefonierten sie Telefonbücher durch, suchten darin systematisch nach altmodisch klingenden Vornamen. „Sie nutzten eine eigene Software, um keine Zeit mit Tippen zu verschwenden“, sagt Kowalski. Jeder wählte 400 Nummern am Tag. In drei Wochen ergaunerte allein diese kleine Gruppe 80 000 Euro.

Als Erfinder des Enkeltricks gilt ein Mann namens Arkadiusz L. Um die Jahrtausendwende soll er die Masche in Hamburg perfektioniert haben, später floh er vor der Polizei nach Polen. Dort entwickelte sich aus seinem Trick ein florierendes Geschäft. Deutsche und polnische Ermittler berichten übereinstimmend, dass die Taten häufig aus Großfamilien heraus geplant und ausgeführt würden. Ihre Opfer seien nicht nur Senioren in Deutschland, sondern auch in Italien, Spanien oder Frankreich – je nachdem, welche Sprachen eine Anruferin oder ein Anrufer akzentfrei beherrsche. Solange mindestens eine Landesgrenze sie von den Opfern trennt, fühlen sich die Täter sicher.

Sie wissen vermutlich, dass im deutschen Föderalismus schon eine polizeiliche Überwachung zwischen zwei Bundesländern eine Herausforderung darstellen kann. Die automatisierte Verfolgung eines Autokennzeichens? Eine schnelle Telefonüberwachung von Polen nach Deutschland? Kowalski seufzt: „Die Deutschen und ihr Datenschutz.“ Die von ihm geschätzten Kollegen müssten wegen strenger Regeln permanent gegen unnötige Widerstände kämpfen, findet er.

Immerhin rüstet die Polizei europaweit auf. An einem Vormittag im vergangenen Dezember sitzen beim Landeskriminalamt in Berlin 14 Beamte in Zivil hochkonzentriert an einem langen Tisch. Jeder hat zwei Monitore vor sich. Bildschirme an der Wand zeigen eine interaktive Landkarte von Europa; daneben rattern in Chatfenstern Nachrichten auf Englisch herunter: „@Slowakei, wir zapfen die deutsche Nummer an.“ – „Danke, @Polen, das Opfer geht jetzt zur Bank. Wir sind bereit.“

Hier beim Dezernat 253 arbeiten einige der erfahrensten Schockanruf-Jäger Deutschlands. Von diesem Kontrollzentrum aus steuern sie im Dezember eine europaweite Aktionswoche, 750 Beamte in acht Ländern machen mit. Der Leiter des Berliner Teams, Sebastian Höhlich, tigert konzentriert hinter den Kollegen hin und her. Er arbeitet seit Jahren mit Kowalskis Einheit in Posen eng zusammen.

Eine Frau in Hessen hat eben Geld von der Bank geholt und wartet auf den Abholer. Sie hatte zuvor die Kripo informiert. Kollegen von der bayerischen und hessischen Polizei stehen bereit. Vom Anruf bis zur Geldüberlage liegen beim Schockanruf meist nur wenige Stunden – was die Sache für Ermittler besonders schwierig macht. „Die Täter müssen sich nicht mit Bürokratie herumschlagen“, sagt Höhlich, „deshalb überwinden wir die nun auch.“ Kollegen aus 15 Bundesländern sitzen mit am langen Tisch, Staatsanwälte sind ebenfalls eingeklinkt. Da kommt ein Funkspruch rein: Die Telefonüberwachung eines mutmaßlichen Täters hat einen Treffer ergeben. Ein junger Beamter spricht in sein Headset: „Festnahme ist freigegeben.“ Höhlich reibt sich zufrieden die Hände.

Am Ende der Aktionswoche haben die Ermittler 391 Taten verhindert, einen Schaden von knapp fünf Millionen Euro. 20 mutmaßliche Täterinnen und Täter sitzen europaweit in Untersuchungshaft; neun Abholer und immerhin elf Anrufer. Sebastian Höhlich ist stolz auf sein Team.

In Posen, drei Monate später, steht Jan Kowalski vor einem Mehrfamilienhaus, Neubau, keine zehn Minuten von der Luxusvilla entfernt. „Im ersten Stock war das Callcenter“, sagt der Ermittler und deutet auf die Fenster. Fünf Verdächtige hatte er in den Tagen zuvor beschattet, ihre Kontakte zum Bandenchef dokumentiert und schließlich beobachtet, dass sie in der Wohnung hier morgens die Rollläden schlossen. „Wenn sie anfangen, Opfer anzurufen, machen sie meistens die Rollläden zu“, sagt Kowalski. Kurz darauf nahm eine Spezialeinheit die Bande fest. Ein Mann versuchte noch, ein paar Handys im Kaminofen zu verbrennen, erfolglos.

Die Clanfamilien helfen sich mit Verstecken, Autos und Alibis

Ein Callcenter auszuheben, ist für die Ermittler ein Jackpot. Häufig erwischen sie nur die Abholer, kleine Fische. Die Anrufer, innerhalb der Organisationen „Keiler“ genannt, sind die Großverdiener im Geschäft. Sie bekommen meist die Hälfte der Beute. Die Bandenchefs wiederum regeln in sicherem Abstand die europaweite Strategie: „Sie betreiben jeden Tag fünf solcher Callcenter in Danzig, fünf in Krakau, fünf hier in Posen“, berichtet Kowalski. Logistiker dirigieren gleichzeitig etwa 50 Abholer in Autos in der ganzen Bundesrepublik. Auf Zuruf sammeln sie das Geld ein. Die weitverzweigten Familien helfen den Tätern mit Unterschlupf, Autos und Alibis.

Kowalski öffnet die Tür zu seinem Büro. An der Innenseite klebt ein auf mehrere DIN-A4-Seiten gedruckter Stammbaum zweier krimineller Großfamilien. Er fährt mit dem Finger über die Gesichter und erklärt die Aufgaben: „Anrufer, Logistiker, Anrufer.“ Bei etwa einem Drittel sind die Namen mit Kugelschreiber durchgestrichen: „Im Knast, im Knast, im Knast.“

Nach Festnahmen säßen ihm in seinem Büro immer wieder junge Frauen gegenüber, die eben noch tagelang Omas in die Irre geführt hätten, bis zu sechs Sprachen akzentfrei sprächen – und trotzdem behaupteten, sie hätten das alles nur aus einer Notlage heraus getan. Um irgendwie zu überleben. „Von wegen“, knurrt Kowalski. „Sie finden halt keinen Job, in dem sie 40 000 Euro im Monat steuerfrei verdienen.“ Man merkt, die Sache lässt ihn nicht kalt. Dass die Täter sich oft als Polizisten ausgeben und das Vertrauen in seinen Berufsstand missbrauchen, macht die Sache für ihn fast persönlich.

Drei Monate nach dem Großeinsatz im Dezember zeigt sich: Ein Teil der Banden ist tatsächlich fürs Erste lahmgelegt. Die meisten Mitglieder hätten sich in die Slowakei und nach Kroatien abgesetzt, sagt Kowalski. Aber er ahnt: „Die kommen wieder.“ Bei seiner Rundfahrt am Nachmittag bleibt er mit seinem Auto irgendwann vor einer Villa aus rotem Backstein stehen. Auch hier lebte bis vor Kurzem der Chef einer bekannten Bande. Da huscht ein Lächeln über Kowalskis Gesicht: „Das Schild am Zaun ist neu.“ Auf dem gelben Plastikschild steht eine Telefonnummer. Und darüber: „Zu verkaufen“.