
Diese Ausstellung kommt offensichtlich zum falschen Zeitpunkt. Während die Welt, wie wir sie kennen, jeden Tag ein Stück weiter untergeht und die Alphamännchen Kriege führen, Deals machen und Angst verbreiten, feiert das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe (MK&G) den Glitzer. Diese flirrenden, funkelnden, blinkenden Partikel, die bestenfalls Roter-Teppich-Glamour verbreiten und schlimmstenfalls billigen Plastikkram noch billiger aussehen lassen? Eltern mögen an die Zimmer ihrer Kinder denken und die Kinder wiederum ans Kosmetikregal im Drogeriemarkt, aber Glitzer im Museum? Das klingt mehr nach Eskapismus als nach Bildungsauftrag. Gibt es im Moment nicht wichtigere Themen als Discokugeln?
Na klar, alle Kanäle laufen ja 24/7 über davon. Und gerade deshalb kommt die einfach „Glitzer“ betitelte Sonderausstellung genau zum richtigen Zeitpunkt. Denn der glänzende Schein von Pailletten, Glassteinen und Goldglimmer erhellt, was auf dem Spiel steht. Wer Glitzertops oder Flitter auf Nägeln trägt, gestaltet sich eine andere, freiere, weil unangepasstere Welt, so die These der Ausstellung. Das tun Teenager genauso wie queere Personen oder Showstars. „Das Material Glitzer hilft den Menschen dabei, kreativ zu werden“, sagt Tulga Beyerle, die Direktorin des MK&G. Nina Luzia Groß und Julia Meer, die Kuratorinnen der Ausstellung, ergänzen: „Glitzer ist hartnäckig-klebrig, leicht zu verteilen, schimmernd, immer anders.“ Mit einem Wort: Glitzer ist subversiv.

Den Beweis der subversiven Strahlkraft von Glitzer tritt das MK&G in sechs Ausstellungskapiteln an, mit rund 40 Positionen aus Kunst und Gestaltung – und mit 99 Objekten, die Privatpersonen auf einen öffentlichen Aufruf hin zur Verfügung gestellt haben. Im zentralen Raum, der „Hall of Glitter“, sind die Objekte präsentiert wie wertvolle Sammlungsstücke: eine Perücke aus schimmernden Folienstreifen, ein über und über mit Glitzerstickern beklebter CD-Player und mehrere ebenso üppig mit Strass verkrustete Handys, die erwartbaren Paillettenkleider und Kitschdevotionalien.
Mit Zitaten werden die Alltagsobjekte zum Sprechen gebracht. „Einfach alles wird viel schöner mit Glitzerstickern. Man kann gar nicht genug damit verzieren“, gab die zehnjährige Eigentümerin des CD-Players zu Protokoll. An anderer Stelle erfährt man, dass Glitzer geholfen habe, eine schwierige Lebenssituation zu überstehen oder dem Male Gaze ein Schnippchen zu schlagen.
Es kann Stärke und Selbstbewusstsein schenken
Berührend: das Foto einer Mastektomie-Narbe, mit goldener Glitzerschminke für einen Moment symbolisch geheilt. Gerade in fragilen Lebenssituationen zeigt sich die Superkraft des Materials. Mit seiner Larger-than-Life-Attitüde kann es Stärke und Selbstbewusstsein schenken und dabei helfen, die eigene Identität zu erkunden und zu behaupten. In der Ausstellung unter anderem symbolisiert durch eine Jugendzimmer-Installation der Künstlerin Jenny Schäfer.

Zudem widmet sich die Schau mit zahlreichen künstlerischen Arbeiten der Bedeutung für Emanzipations- und Protestbewegungen. Die nonbinäre Person Pansy St. Battie ist für ihre Burlesque-Performance auf einen Rollstuhl angewiesen – in einem Akt der Selbstermächtigung mit Strass überzogen und zugleich Vehikel für Selbstinszenierungen in provozierenden Posen. Glitzer macht marginalisierte Personen sichtbar – das queere Duo „The Huxleys“ treibt diese Sichtbarkeit in seinen Foto- und Videoarbeiten bis zur Groteske. Ihre Körper ganz von Flitter bedeckt und von absurden Perücken im Drag-Stil bekrönt, üben die beiden Kunstfiguren im Sinne des Camp eine irritierende Anziehungskraft aus. In Form von Glitterbombs sind die Partikel handfestes Werkzeug des politischen Protests. LGBTQ+-Aktivisten überschütteten Politiker wie Newt Gingrich, Mitt Romney oder Jair Bolsonaro mit Glitter. Attacken, die zwar Leib und Leben nicht in Gefahr bringen, aber das Image des konservativen Saubermanns „beschmutzen“.
Auf die Spur der Kehrseiten von Glitzer bringt einen die Videoarbeit „Aschermittwoch“ der brasilianischen Künstler Cao Guimarães und Rivane Neuenschwander: Man beobachtet Ameisen in Nahaufnahme dabei, wie sie metallisch-bunte Konfettiplättchen in ihren Bau tragen, Überbleibsel des Karnevals. Denn so leicht die flirrenden Teilchen zu verteilen sind, so schwierig sind sie wieder aus der Welt zu schaffen. 2023 trat eine EU-Verordnung in Kraft, die Mikroplastik bestimmter Partikelgrößen ganz verbietet – und damit Glitzerschminke oder Bastelglitzer, die auf Kunststoff basieren. Es gibt Alternativen, doch an dieser Stelle kommt der affirmative, bestärkende Zugang der Ausstellung an seine Grenzen. Sowohl kritische wie historische Dimensionen sind in eine Timeline im Foyer ausgelagert – statt kuratorische Formate zu finden, um diese Themen in der eigentlichen Ausstellung zu vermitteln. Wer sich aber durch die Timeline arbeitet, erschließt sich noch mal ganz andere Dimensionen der widersprüchlichen Welt des Glitzerns und Funkelns. Schon die Neandertaler, so vermutet man, nutzten Mineralien für Glitzerschminke. Kleopatras Make-up wiederum schillerte dank zerriebener Käferflügel. Eine Mode, die in der Renaissance wieder auflebte und viele der Käferarten mit glänzenden Flügeln stark dezimierte. So schwingt man sich lesend von der Erfindung der Strasssteine über Disneys Cinderella bis zur unvermeidlichen Taylor Swift, die 2022 von sich sagte: „I bleed glitter, I am not normal, there’s something wrong with me.“