Zwei Tage vor dem Spiel gegen den FC Bayern verbreitete Alba Berlin diesen Satz seines Kapitäns Jonas Mattisseck: „Wenn man auf die Tabelle guckt, liegen gerade Welten zwischen uns und den Münchnern.“ Wenn man dann am Sonntagnachmittag, Mitte des zweiten Viertels, auf den Court und die Anzeigetafel der Arena am Ostbahnhof guckte, musste man feststellen: Nicht nur in der Tabelle.
Man konnte sehen, wie Carsen Edwards, der beste Scorer der Bayern in dieser Saison, auf dem Feld unterwegs war, als wäre es seine eigene Liga. Man konnte sehen, wie Andreas Obst mit jeder Faser ausstrahlte, dass er Weltmeister ist. Man konnte außerdem sehen, wie der erst 18 Jahre alte Ivan Kharchenkov und Devin Booker anfingen, Punkte anzuhäufen, und dass nach einer Serie von zehn Münchner und null Berliner Punkten auf dem Scoreboard stand: Alba 18, Bayern 37.
Minus 19: Das war ganz und gar nicht die Form von „Augenbling“, die eben noch während einer Auszeit von den Lokalhelden von „Seeed“ besungen worden war: „Deine Augen machen bling bling und alles ist vergessen.“ Es war: zum Wegsehen.
Wie war die Wende möglich?
Dass später Alba-Kapitän Mattisseck sagte, die Atmosphäre in der Halle sei am Ende gewesen, als wären es „Finals, fünftes Spiel“, erzählte dann eine ganz andere Geschichte über diesen Nachmittag, der aus Alba-Sicht zwar vielleicht nicht unvergesslich, aber doch denkwürdig wurde. Die Münchner waren als souveräner Tabellenführer angereist, Alba hingegen steckte in einem Tief bislang unbekannten Ausmaßes: Letzter in der Euroleague, Drittletzter in der Bundesliga, zuletzt neun Niederlagen aus zehn Pflichtspielen, an Silvester eine besonders bittere, zu Hause, gegen Rostock.
Nun stand auf der Anzeigetafel: Alba 88, Bayern 81. Und das warf zwei Fragen auf. Die eine: Wie das möglich war und was das für die zuletzt so graue Berliner Gegenwart bedeutet. Die andere: Ob so ein Sieg angesichts des zuletzt so massiv verschobenen Kräfteverhältnisses zwischen dem elfmaligen Meister aus der Hauptstadt und dem aktuellen Double-Sieger trotzdem eine immer seltenere Ausnahme von der neuen Regel sein wird.
Als später Himar Ojeda, der Sportdirektor der Berliner, in der schon fast leeren Arena über den Sieg sprach, hob er wie die meisten Protagonisten die „Energie“ hervor, die es Alba ermöglicht habe, das Spiel noch zu drehen; da waren die Berliner auch besser dran als die Bayern, die zwei Tage vorher noch ein spätes Euroleague-Spiel in Madrid bestritten hatten. Ojeda sprach von der zupackenden Verteidigung nach der Pause und von der Entschlossenheit im Wurf, die gerade Tim Schneider und Malte Delow nun gezeigt hätten, obwohl in der Kabine noch „Angst“ zu spüren gewesen sei, eine „mentale Lähmung“ infolge der vielen Niederlagen.
„Wir haben uns vor dem Spiel gesagt: Lasst das einen Start sein für einen Run in der zweiten Saisonhälfte“, berichtete Kapitän Mattisseck. Gerade weil dieser Sieg nicht nur gegen die Realität der Tabelle, sondern auch gegen den Trend des Abends gelang, wurde daraus das erhoffte Lebenszeichen – wenngleich mit einer Fußnote, wie das William McDowell-White formulierte, der ein paar spektakuläre Punkte beigetragen hatte: „Er könnte alles drehen, aber er ist nichts wert, wenn wir jetzt nicht weiter gewinnen.“
Das Modell Alba ist in die Klemme geraten
Dass es eine schwierige Saison werden könnte, wussten sie bei Alba, trotz der im Vorjahr nur knapp verlorenen Meisterschafts-Finals gegen die Bayern. Nach dem größeren Umbruch 2023 hatten sie noch einmal zwei wichtige Spieler verloren, Weltmeister Johannes Thiemann und Sterling Brown, und keinen adäquaten Ersatz verpflichten können. „Wir wussten, dass wir ein bisschen Glück brauchen würden“, sagte Ojeda, „aber das Gegenteil war der Fall.“ Vor allem die vielen Verletzungen machten Alba zu schaffen, bis zu sieben Ausfälle waren es. Für Sonntag hatte es leise Hoffnung auf eine Rückkehr von Spielmacher Martin Hermannsson gegeben, aber dann wachte er mit Magen-Darm-Problemen auf. „Jeden Tag ist irgendetwas“, sagte Ojeda. Nun hoffe er auf Kontinuität und wachsende Stabilität.
Aber es ist eben auch nicht nur Pech. Das Modell Alba ist in die Klemme geraten, von mehreren Seiten. Und der Verein muss kämpfen und kreativ sein, um sich irgendwie herauszuarbeiten.
Ein Kern des Problems ist die prestigeträchtige, aber kostspielige Euroleague. Dort, bei den Besten Europas mitzumischen, ist Albas Anspruch. Doch aus der erhofften Rolle als Anteilseigner mit zusätzlichen Einnahmen wurde nichts, nun startet das Team mit einer Wildcard, die sich die Euroleague teuer bezahlen lässt. Dazu kommen Probleme vor der eigenen Haustür, die schwierige Berliner Sponsorenlandschaft und die teure Hallenmiete beim Anschutz-Konzern. Während anderswo in Europa Geld keine Rolle spielt, fehlt es in Berlin an Substanz für die doppelte Herausforderung: In der Euroleague reicht es kaum, um mitzuhalten, in der Bundesliga fehlen dann oft die Kräfte.
Albas Ansatz ist ein anderer – und soll das auch bleiben. „Wir wollen weiter wachsen“, sagt Ojeda, aber es müsse nachhaltig sein. Nicht nur in teures Personal für das Männerteam dürfe investiert werden, sondern auch „in Schulen in Gropiusstadt, in unser Frauen-Team, in Kids, die Basketball spielen wollen, in Infrastruktur“. In die Stadt wirken, und davon auf lange Sicht profitieren. Und vielleicht auch von einer Neuordnung auf dem europäischen Markt, oder zumindest der Einführung eines Financial Fairplay. Aber all das klingt im Moment eher vage.
Heißt das, dass die Bayern aus Berlin künftig nur noch mit dem Fernglas zu sehen sein werden? Nein, sagt Ojeda, er sei „zuversichtlich, sie auch weiter herausfordern zu können“. Schon vor Jahren hätten sie bessere Möglichkeiten gehabt, und Alba sei trotzdem Meister geworden, dreimal nacheinander. Nur: Der Unterschied ist heute ein anderer, Ojeda zeigt das mit den Händen: Was damals vielleicht zehn Zentimeter waren, sind heute zwanzig oder dreißig. Während Alba in der laufenden Saison rund acht Millionen Euro für Spieler und Stab aufwendet, sollen es bei den Bayern rund 18 Millionen sein.
In den vergangenen Tagen bemühten sich die Berliner um eine Verstärkung, James Webb III, als Ersatz für Trevion Williams, der die Erwartungen nicht erfüllt hatte. Webb musste seinen türkischen Klub verlassen, weil kein Geld mehr da war. Ojeda zuckt mit den Achseln, so geht das eben anderswo zu. Mit Webb sei man sich im Grundsatz einig gewesen – bis in letzter Minute ein Angebot aus China kam. „Die Sache ist durch“, sagte Ojeda. Womit man auch eine Ahnung hatte, wo die Berliner in der Nahrungskette stehen.