
Der erste Eindruck? Das Holzfällerhemd, offen getragen. Angriffslustig. Und passend zur Location. Bei seiner Premiere als Bundestrainer am 14. Oktober 2023 im Stadion „Rentschler Field“ von Hartford setzte Julian Nagelsmann bei nasskaltem Herbstwetter klare Signale. Arbeiten. Anpacken. Machen. Und die Talfahrt der deutschen Nationalmannschaft unter Vorgänger Hansi Flick stoppen, der bei der WM 2022 in Katar in der Vorrunde unglücklich ausgeschieden war und einen Monat zuvor ein Heimspiel gegen Japan mit 1:4 verloren hatte.
Es folgte ein Neuanfang, ein Aufbruch unter Sportdirektor Rudi Völler, der im September 2023 noch einmal als Chefcoach beim 2:1 im Testspiel Frankreich ausgeholfen hatte. „Tante Käthe“ hält bis heute die schützende Hand über Nagelsmann, gibt den liebenswürdigen DFB-Onkel. Während „Enkel“ Julian alle(s) aufmischt – im positiven Sinne. Damals, im Oktober 2023, bei seinem Nationaltrainer-Debüt gegen Gastgeber USA trafen nach dem 0:1-Rückstand Kapitän Ilkay Gündogan, Niclas Füllkrug und Jamal Musiala zum 3:1-Erfolg. Keiner des Trios ist im aktuellen Kader für die WM-Qualifikation, keiner mit dabei in Belfast gegen Nordirland – weil mittlerweile zurückgetreten (Gündogan), nicht nominiert (Füllkrug) oder verletzt (Musiala). Interessant: Der von Nagelsmann reaktivierte Mats Hummels sprach davon, dass „jeder Auftritt für das Team wichtig sei, um mit Blick auf die Heim-EM Euphorie zu entfachen.“ Erstens kommt es anders und zweitens…
Niederlage 2023 gegen die Türkei: Tiefpunkt der Nagelsmann-Ära
Euphorie aufkommen lassen wollte Nagelsmann vor exakt zwei Jahren nach seiner Premiere nicht, das machte er auf der US-Reise deutlich: „Einen halben Tag frei gebe ich ihnen nicht. Vielleicht mal ein Stündchen. Wir sind nicht zum La-Paloma-Pfeifen da. Jetzt haben wir ein Spiel gewonnen. Und es wäre ganz gut, wenn wir auch noch das zweite gewinnen.“ Was nicht gelang. 2:2 gegen Mexiko. Im November folgte der Tiefpunkt der Nagelsmann-Ära: Ein 2:3 gegen die Türkei und das entwaffnend unterlegene 0:2 in Wien gegen Ralf Rangnicks Österreicher. Er besann sich eines seiner Mantras: Reg dich nicht auf, mach’s einfach besser!
Über den Winter überzeugte Nagelsmann Passmaschine Toni Kroos zum DFB-Comeback, drehte den Kader auf links (raus mit Hummels, Leon Goretzka und anderen), verteilte klare Rollen-Definitionen und sorgte wenige Monate vor der Heim-EM tatsächlich für Euphorie – getreu einem weiteren seiner Kernsätze: Das Schlimmste im Leben ist, wenn man keine Entscheidungen trifft. Also: Wer wagt, gewinnt. Gemäß der lange aktuellen Statusmeldung des heute 38-Jährigen in seinem WhatsApp-Profil: „Vivere est vincere“, also: Leben heißt siegen.

© Augenklick/Jürgen Fromme
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Nagelsmann muss Kritik aushalten: Bayern härtet ab
Die Heim-EM wurde ein emotionales Event, mit einem Team aus „Zauberern“ (Musiala, Wirtz) und „Workern“ (Andrich, Raum), beide Lieblingsbegriffe des Bundestrainers. Das Aus im Viertelfinale in der Verlängerung (1:2) gegen Spanien war tragisch. Und traurig. Nagelsmann weinte im TV und riet der deutschen Gesellschaft: „Wenn ich dem Nachbarn helfe, die Hecke zu schneiden, ist er schneller fertig.“ Ein anderer Spruch flog Nagelsmann um die Ohren: „Es tut weh, dass man jetzt zwei Jahre warten muss, bis man Weltmeister wird.“ Daran wird er gemessen. In der Nations League erreichte das DFB-Team erstmals die Endrunde, verlor im Juni jedoch gegen Portugal und Frankreich, wurde zurechtgestutzt. Das 0:2 zum Auftakt der WM-Qualifikation in der Slowakei bedeutete: Nur ein Sieg in den fünf Länderspielen des Jahres.
Sein Vertrag lief erst nur bis zur Heim-EM, wurde dann bis 2026 und im Januar bis 2028 verlängert – vorausgesetzt, es gibt kein böses Erwachen bei der Nordamerika-WM. Der ehemalige Bayern-Trainer (Juli 2021 bis März 2023) hat Gefallen an seiner Aufgabe gefunden. Kritik, das hat er gelernt, müsse er „ein Stück weit aushalten, wenn Spiele nicht gut laufen“. Er sei, so Nagelsmann in Belfast zur ARD, „nicht angefasst, wenn Kritik auf mich einprasselt. Ich war ja auch vorher bei einem Klub, der nicht immer das ruhigste Umfeld hat.“ Bayern härtet eben ab.