Zum Tod des Schweizer Schriftstellers

Literatur sei darauf angewiesen, Unbedeutendes tun zu dürfen. Mit diesem scheinbar schlichten Leitsatz startete der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel 1982 den ersten Teil seiner „Frankfurter Poetikvorlesungen“. Sie fassten die Wechselwirkung zwischen Leser und Erzähler ins Auge, mit unkonventionellen Ergebnissen.

Die lakonische Einführung war vertrackter, als es auf Anhieb scheinen mochte. Sie lieferte gleichzeitig den geheimen Schlüssel zu einer Poetologie, die sich als Spurenelement im literarischen Werk von Bichsel, in dessen zahlreichen Kolumnen und Aufsätzen, sogar in den imposanten Essays zu Robert Walser und Johann Peter Hebel finden. Die Schwierigkeiten der Schriftsteller mit den Kritikern und Germanisten, so Bichsel damals, rühre von ihrem ständigen Drang, etwas Bedeutendes erklären zu wollen. Damit aber schlügen sie dem Schriftsteller die Hintertüre zu, der sich dem Erzählen des Lebens verschrieben habe und aus dem Unscheinbaren etwas Bedeutendes extrahiere.

Der Schriftsteller, so Bichsels These, sei einer, der in „Geschichten“ denke, nicht in abstrakten wissenschaftlichen Kategorien. Man könne das Leben nur „erzählend bestehen“. Die Ausbildung eines „erzählerisches Bewusstsein“, das an die Stelle des bloß „historischen“ trete, sei unentbehrlich. Peter Bichsel war davon überzeugt, dass in einer Welt der inflationären Kommunikation und der überschwemmenden Informationsflut das Erzählen der Literaten ein geradezu aufklärerischer Akt sei – dringend notwendiger Widerstand gegen das Dominat austauschbarer News.

Ein Mann von geradezu kindlicher Erzählfreude

Und er machte damit ernst. Seinen poetologischen Glaubenssatz löste er bis zuletzt ein, und das nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich. Wer mit ihm etwa eine lange Zugfahrt zu bestehen hatte, kam in den Genuss einer schier unerschöpflichen, geradezu kindlichen Erzählfreude, die er gerne mit einem Glas Rotwein zusätzlich befeuerte. Sein Vorrat an launigen Anekdoten und schlauen Geschichten schien unbegrenzt. Mit Leichtigkeit brachte er die Dinge auf den Punkt. Unverdrossen steuerte auf die beißend ironischen Pointen zu, die er als Feuerwerk zündete. Eine unbestechliche Beobachtungsgabe, ein ausgeprägter Sinn für die unberechenbaren Kapriolen des Schicksals und eine Form von Bauernschläue, mit der er andere durchschaute, eröffneten ihm ein immenses Stoffreservoir.

Im Kreis der ganz Großen: Peter Bichsel (zweiter von rechts) im Jahr 1976 zwischen Max Frisch, Heinrich Böll und Günter Grass.
Im Kreis der ganz Großen: Peter Bichsel (zweiter von rechts) im Jahr 1976 zwischen Max Frisch, Heinrich Böll und Günter Grass.Barbara Klemm

Jedem noch so unscheinbaren Detail gewann er eine überraschende Facette ab. 2008 gab er in einem Aufsatz in der „Neuen Zürcher Zeitung“ über seine Erinnerungen als Achtundsechziger-Sympathisant eine kleine Probe davon. Ganz leichthin verwandelte er darin die revolutionäre historische Ära in einen Flickenteppich von Geschichten und unterwanderte damit kaum wahrnehmbar die postume pathetische Selbstfeier der Genossen. Einmal sei er zufällig dem völlig niedergeschlagenen Paul Ignaz Vogel begegnet, einem militanten Achtundsechziger, der in Berlin studiert hatte, nach Basel zurückgekehrt war und dort die Zeitschrift „Neutralität“ gegründet hatte – als Forum für „engagierte“ linke Schweizer Autoren wie Max Frisch, Arnold Künzli oder Konrad Farner. Auf Bichsels Frage, warum Vogel denn so bedrückt sei, habe dieser geantwortet, der bedeutende Germanist Walter Muschg sei eben gestorben. Was ihn denn der Tod dieses bürgerlichen Wissenschaftlers mit seiner linken Zeitschrift überhaupt angehe, erwiderte Bichsel, und Vogel daraufhin: „Er hat sie bezahlt.“

Selbst die von ihm Kritisierten achteten ihn

Genau in dieser Mischung aus spielerischer Komik, paradoxer Entlarvung und virtuoser Erzähllust liegen die Gründe, warum sich der 1935 in Luzern geborene und in Solothurn aufgewachsene Peter Bichsel im Laufe der Jahre als eine der wichtigsten intellektuellen Instanzen der Schweiz etabliert hatte. Politiker aller Couleurs achteten seine Kritik und nahmen seine Einwürfe ernst. Kein Wunder, dass der ebenfalls aus Solothurn stammende sozialdemokratische Bundesrat Willi Ritschard den ehemaligen Primarlehrer Bichsel von 1974 bis 1981 zum persönlichen Berater machte und sich von ihm seine Reden schreiben ließ. Das war damals ein höchst unkonventioneller Schachzug eines Politikers und eine Arbeit, der Bichsel mit Ernsthaftigkeit nachkam – nicht ohne Jahre später jeweils mit genüsslichem Spott zu erzählen, wie Ritschard, nicht ganz uneitel, am frühen Morgen als erstes nach den Medienbildern vom Vortage verlangte, die ihn als Bundesrat zeigten.

Es ist kein Zufall, dass Bichsels Aufsatzsammlung „Des Schweizers Schweiz“ (1969) zu einem seiner nachhaltigsten Erfolge wurde. Mit den typisch arglosen, gradlinigen, in Wahrheit aber präzis gedrechselten und schillernden „Wandtafelsätzen“, die oft dem schlichten Satzbaumuster „Subjekt-Prädikat-Objekt“ gehorchten, setzte er Zeichen, die bis heute für die Mentalität der Schweiz gültig sind. Auch Jahrzehnte später könnte man die Schlüsselsätze zum Selbstverständnis der Eidgenossen ohne Korrektur übernehmen: „Dass das Ansehen der Schweiz im Ausland gelitten habe, gilt bei uns als Phänomen. Wir ziehen daraus den Schluss, dass man den anderen den Sonderfall Schweiz besser erklären müsse. Das Phänomen ist also sprachlicher Art, das heisst, die anderen kennen die Wörter nicht mehr, mit denen man den Begriff Schweiz zu verbinden hat.“

Viele Jahre danach persiflierte Bichsel in seiner Aufsatzsammlung „Die Totaldemokraten“ die unablässige helvetische Identitätsbeschwörung und die isolationistische Abgrenzung von den Nachbarn mit einer maliziösen Reihe von Selbstzuschreibungen: „Die Schweizer waren gutmütige Schweizer. Die Schweizer waren freundliche Schweizer. Ich war ein Schweizer. Alle Schweizer waren Schweizer. Was waren die Deutschen? Was waren die Oesterreicher?“

Bichsels Entdecker war Marcel Reich-Ranicki

Peter Bichsel hatte allen Grund, Deutschen gegenüber offen zu sein. Als einer der wenigen Autoren in der Schweizer Literaturgeschichte verdankte er das fulminante Debüt weniger der Schweiz, sondern deutschen Intellektuellen. Drei Namen sind mit seiner frühen Blitzkarriere zwingend verbunden: Marcel Reich-Ranicki, Walter Höllerer und Hans Werner Richter. Als 1964 der Erstling „Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennen lernen“ in bescheidener Auflage erschien, war sie rasch vergriffen.

Grund dafür war eine begeisterte Rezension von Marcel Reich-Ranicki in der Wochenzeitung „Die Zeit“, der dem damals erst neunundzwanzigjährigen als Lehrer arbeitenden Bichsel eine bedeutende literarische Zukunft und dem Verlag eine verblüffende Entdeckung attestierte. Sie lobte den Minimalismus des Stils, der sich mit Akkuratesse und Disziplin verbinde und dessen Solidität das Risiko des Biederen elegant ausschalte. Man habe es mit einer Provokation zu tun, so Reich-Ranicki, die aber weniger in den Worten des Autors liege als in den Pausen.

Zweiter Erfolgsfaktor, der die Rezeption beschleunigte, war Höllerers Einladung ans LCB im gleichen Jahr. Als schließlich Hans Werner Richter dafür sorgte, dass Peter Bichsel der renommierte Preis der Gruppe 47 zugesprochen wurde, war die erfolgreiche Zukunft dieses Schweizer Schriftstellers besiegelt. Die Beachtung seiner Prosawerke war ihm fortan sicher; „Kindergeschichten“ (1969), „Der Busant – Von Trinkern, Polizisten und der schönen Magelone“ (1985), „Zur Stadt Paris“ (1993) und „Cherubin Hammer und Cherubin Hammer“ (1999) zählen zu den wichtigsten.

Definitiv ins Herz einer breiten Leserschar seiner Heimat eingeschrieben aber hat sich Peter Bichsel mit einer Brotarbeit, die er gleichzeitig diszipliniert und virtuos erledigte: Jahrzehntelang schrieb er Kolumnen in Zeitungen und Zeitschriften, zuerst in der „Weltwoche“, dann im „Tagesanzeiger-Magazin“, später in der „Luzerner Neuesten Nachrichten“ und der „Schweizer Illustrierten“. In diesen unkonventionellen Prosastückchen spiegelte der Wenigschreiber mit scharfem Auge die Mentalität der Eidgenossen. Und er legte im gleichen Zug eine hellsichtige „Schweizergeschichte“ vor, die durch ihre Unbestechlichkeit bis heute innerhalb der helvetischen Literatur unvergleichlich dasteht. Immer noch. Am vergangenen Samstag, so teilt nun sein deutscher Verlag Suhrkamp mit, ist Peter Bichsel gestorben, nur wenige Tage vor seinem neunzigsten Geburtstag.