Zum Eisbaden nach Finnland reisen

Wie von einer weißen An­goradecke verhüllt ruht die märchenhafte Winterlandschaft. Schneeschwere Fichten, die Weite des eisstarren Lahukka-Sees, alles getaucht ins magische Licht der blauen Stunde. Was für eine Szenerie! Gekuschelt ins Rentierfell meines Schaukelstuhls lausche ich dem Knistern des Kaminfeuers und genieße den traumhaften Ausblick durch die Panoramafenster der finnischen Holzvilla.

Bisher floh ich im Winter gern in die Sonne. Aber da war auch die Sehnsucht nach Schnee satt und genau dieser wilden Romantik. Meine finnische Nachbarin Aava wusste Rat. Sie ließ ihre Kontakte in Nordkarelien spielen, gut 400 Kilometer nordöstlich von Helsinki. So bin ich jetzt zu Gast bei Aavas Schulfreundin Sari Kaasinen.

Sari führt auf ihrem Anwesen „Villa Ruusula“ in der Einsamkeit hinter dem Dorf Rääkkylä ein Gästehaus mit viel Flair und gibt Workshops in karelischer Backkunst und Kantele spielen, Finnlands Nationalin­strument. Nebenbei ist Sari auch noch Volksmusik-Star und war schon weltweit auf Tournee. Dabei ist sie bodenständig geblieben und lebt ihre Heimatliebe. Herzlich umsorgt Sari Besucher und bereitet ihnen besondere Erlebnisse: Schneeschuh-Wandern, Ausflüge per Tretschlitten zu einer Insel mit zünftigem Wintergrillen oder Sauna-Spaß inklusive Abkühlung im Schnee. Für mich hat sich Sari am nächsten Tag etwas einfallen lassen: „Komm, wir gehen Muikku fürs Abendessen fangen.“

Strahlender Sonnenschein und kobaltblauer Himmel. Der Wind jagt puderzuckerfeinen Schneenebel über den gefrorenen See. „Das Eis ist einen halben Meter dick“, schätzt Sari. Kraftvoll kurbelt sie die Spitze des Eisbohrers in die Tiefe. Immer wieder, bis es endlich knackt und sich das Angelloch öffnet. Wir setzen uns auf Klapp­hocker und versenken Köder an kurzen Ruten. Ziehen sie auf, senken sie nieder. Das soll die Fische anlocken. Jetzt heißt es warten. „Manche Leute fragen, ob ich mich fürchte, oft tagelang allein in der Wildnis zu leben. Nein, ich habe vor nichts Angst. Ich bin mit der Natur verwachsen“, erzählt Sari. „Außerdem hilft Sisu.“ Wie bitte? Sie lacht. „So nennen wir unsere finnische Form der Resilienz, schwierige Situationen zu meistern. Eine Mischung aus Tatkraft, Selbstvertrauen, Zähigkeit und Zuversicht.“

Leider hilft Sisu nicht beim Angeln. Kein Muikku will anbeißen. Dafür gibt es am Abend Braten vom Elch, den Saris 82-jähriger Vater erlegt hat. Zum Abschied schenkt sie mir eine Dose, in der die sardinen­ähnlichen Muikku eingelegt sind. „Hier, ein Happen Finnisch-Karelien für zu Hause!“

Mein nächstes Ziel liegt eine Autostunde entfernt, in der Nähe von Kesälahti. Der Mietwagen hat Spikes-Reifen, also kein Problem auf den schneebedeckten Landstraßen.

Sari hatte mir die „Karelian Country Cottages“ empfohlen, eine Anlage schick design­ter Ferienhäuser mitten im Wald am Puruvesi-See. Mein „Mökki“ – so nennen die Finnen liebevoll ihre Hütten in der Natur – liegt direkt am eisigen Ufer. Wieder kann ich mich nicht sattsehen am Panorama, wie es der berühmte finnische Landschaftsmaler Gallen-Kallela nicht ergreifender hätte auf Leinwand bannen können.

Taina, die Managerin der Cottages, freut sich über meinen Eifer, typischen Winterspaß der Region auszuprobieren. Dick eingemummelt in Spezialkleidung wegen der beißenden Kälte des Fahrtwindes, röhren wir auf dem Motorschlitten über die schier endlose Eisplatte des Sees, nur am Horizont begrenzt von Inseln. Herrlich, ich fühle mich glatt wie eine Arktisforscherin!

Später gehen wir mit Schneeschuhen auf Luchs-Safari. Die scheuen Großkatzen fühlen sich pudelwohl in der Abgeschiedenheit der karelischen Wälder. Ritsch-ratsch sind die XXL-Treter an die Schneestiefel geschnallt. „Stell dich etwas breitbeinig hin, die Knie locker. Und mit dem Oberkörper leicht nach vorne beugen“, empfiehlt Taina. „Bloß nicht die Füße hochheben, immer schön schlurfen.“ O Wunder, es klappt! Ohne zu versinken, stapfen wir durch den fluffigen Neuschnee. Endlich, an einer mächtigen Kiefer, Spuren von einem Luchs. Um den Stamm liegen Raspeln der Rinde. Taina zeigt auf die Furchen in der Borke. „Das ist sein Wetzbaum, um die Krallen zu schärfen.“ Wir ziehen weiter durch den tief verschneiten Wunderwald. Aber kein Pinselohr lässt sich blicken. Macht nichts, denn es wartet noch ein besonderes Abenteuer: Eisbaden! In Finnland ein Volkssport und sehr gesund: das Immunsystem wird angekurbelt und jede Menge Glückshormone fluten aus.

In der holzbefeuerten Sauna am See heizen wir uns mit Freundinnen von Taina tüchtig auf. Dann flitzen wir zum Steg. Unter der Leiter klafft das dunkle Loch im aufgesägten Eis. Nein! Doch! Ich weiß nicht. Taina ermuntert: „Das schaffst du, nur bis zu den Knien, und nicht das Atmen vergessen!“ Plötzlich wild entschlossen, nehme ich die ersten Sprossen in die eisige Tiefe. Zuerst reicht das Eiswasser bis zur Wade, dann über die Knie, die Hüften und – noch einmal tief durchatmen – bis über die Brust. Auf einmal ist alles, als wäre ich in einer mentalen Kapsel. Der Blick in die Umgebung ist magisch. Ich fühle mich wie ein Teil davon. Ein Gefühl der Erhabenheit durchströmt mich. Die Kälte? Spüre ich nicht. Als wäre ich ein bisschen high. Erst, als ich wieder aufsteige, dringt der Jubel zu mir durch. Klatschen, Lachen und gereckte Daumen.

Die Sonne geht flammend am Horizont unter, als wollte sie mein „Wow“-Erlebnis gebührend illuminieren. Mein persönliches „Sisu“ ist die wundervolle Erfahrung, dass man Glück auch im Eiswasser finden kann.