Analog Glass in Lichtenberg zu besuchen ist wie eine Reise in ein anderes Berlin. Die Fahrt führt vorbei an Wohnscheiben, Lagerhallen und Brachen, bis sich eine Freifläche mit zwei hohen, schlanken Türmen auftut. Alles scheint aus rohem Beton zu sein, die Türme sowieso, aber auch die Bodenplatten und die Mauern zum nächsten Grundstück. Grau in Grau, mit etwas struppigem Grün dazwischen. Hier, weit weg vom Stadtzentrum und dem immer enger werdenden Immobilienmarkt, hat sich eine Gruppe Kreativer in den vergangenen Jahren Raum zum Arbeiten und Leben geschaffen – in und um die beiden Türme herum, einst als Silos des VEB Elektrokohle gebaut und heute die letzten Überreste der längst abgerissenen Fabrik.
In Anlehnung an die Geschlechtertürme der Toskana tauften die für den Umbau verantwortlichen Architekten vom Büro b+ das Projekt im Gestus vergnügter Übertreibung „San Gimignano Lichtenberg“. Der Trick dahinter: Wenn eine postindustrielle Ruinenlandschaft toskanische Grandezza ausstrahlen kann, ist alles möglich.
Auch die kreativen Köpfe hinter Analog Glass, die Designer Birgitta Homburger und Philipp Weber, haben sich von der Strahlkraft des Möglichen ins Gewerbegebiet locken lassen: Im Erdgeschoss des breiteren Turms konzipieren und präsentieren sie die Glasobjekte ihrer Marke. Zartrosa und hellblau schimmernde Krüge stehen auf dem Betonboden, von der Betondecke hängen weiße Leuchten, die wie verdreht wirken. Und an der betongrauen Wand sind gläserne Platten mit unregelmäßig-welliger Oberfläche zu sehen, teilweise spiegelnd, teilweise in starke Farben getaucht. Es stimmt schon, Gegensätze ziehen sich an. Rau und glatt, matt und glänzend, massiv und durchscheinend. Der schroffe Beton lässt das glamouröse Glas erst richtig leuchten.
Doch Beton und Glas haben viel mehr gemeinsam, als es im Showroom von Analog Glass in Lichtenberg auf den ersten Blick aussieht. Beide Werkstoffe speichern Bewegung. Beton hat dabei die Rolle des etwas ungehobelten Verwandten von Glas. Er fließt als zäher, stückiger Brei in Formen und Schalungen und härtet dann aus. Glas kann man ebenfalls gießen, aber in der traditionellen Glasmacherei wird es auch geblasen, gezogen, gedrückt oder anderweitig verformt. In weit mehr als 1000 Grad heißen Öfen verschmelzen die festen Bestandteile Quarzsand, Soda und Kalk zu einer dickflüssigen, orange glühenden Masse. Um daraus Vasen oder Leuchten wie die von Analog Glass herzustellen, nimmt der Glasmacher (es sind überwiegend Männer) etwas von der Masse mit seiner Pfeife auf, einem langen Rohr. Blase nennt sich dieser große Glastropfen, und was dann folgt, ist oft ein lange eingeübter Bewegungsablauf, der einzeln oder zu mehreren in der Werkstatt ausgeführt wird.
„Wir wollen nicht nur die Tradition bewahren, sondern das Handwerk der Glasbläserei neu interpretieren und ihr Potential erweitern.“
BIRGITTA HOMBURGER
Durch die Pfeife wird das Glas in Form geblasen. Mit Zangen, Scheren, Stäben und anderen Werkzeugen wird es in schnellen, konzentrierten Bewegungen weiter bearbeitet, bis es schließlich langsam abkühlt, über Stunden und Tage. Diese ritualisierten Bewegungsabläufe einzufangen ist auch die Entwurfsidee hinter der Omam-Kollektion von Analog-Glass-Gründer Philipp Weber. Bei der Herstellung der Leuchten, Vasen und Beistelltische bewegt sich der Glasmacher nach einer mit Weber gemeinsam einstudierten Choreographie. Durch diesen Tanz mit dem heißen Glas entstehen die für die Kollektion charakteristischen Faltungen und Überlagerungen. „Wir wollen nicht nur die Tradition bewahren, sondern das Handwerk der Glasbläserei neu interpretieren und ihr Potential erweitern“, sagt Birgitta Homburger, die Analog Glass mit Weber führt. „In Zusammenarbeit mit den Glasbläsern entwickeln wir daher gemeinsam eine für Analog typische Designsprache.“
Philipp Weber erlag der Magie des Glases schon während seines Studiums an der namhaften Hochschule Design Academy Eindhoven. Sein Projekt „A Strange Symphony“, für das er die traditionelle Glasmacherpfeife mit einer Trompete kreuzte, um die Musikalität und Theatralik des Herstellungsprozesses sichtbar zu machen, bescherte ihm viel Aufmerksamkeit. Seine Omam-Kollektion wirkt wie eine Fortsetzung dieses Projekts unter pragmatischeren, weil einfach wiederholbaren Bedingungen.
Vor acht Jahren begann Weber, als Designer für den Berliner Künstler Tomás Saraceno zu arbeiten, für ihn konzipiert er unter anderem gläserne Kunstwerke. 2019 gründete er Analog Glass und merkte schnell, dass ihm die Erfahrung fehlte, wie man eine Marke aufbaut. Über Freunde lernte er die ebenfalls in Berlin lebende Birgitta Homburger kennen. Sie führt ihre eigene Gestaltungs- und Markenagentur und bringt Erfahrung in der Kunst- und Designszene mit. Gemeinsam starteten sie Analog Glass vor eineinhalb Jahren neu, mit neuen Produkten und neuem Auftritt, im San-Gimignano-Turm in Lichtenberg.
Hergestellt werden die Objekte in Werkstätten in der Tschechischen Republik, im Bayerischen Wald und in Berlin. Weber und Homburger verorten ihre Marke im Spannungsfeld zwischen serieller Fertigung und Unikat. Einerseits sind die Auflagen nicht begrenzt. Andererseits bringen es die Besonderheiten der handwerklichen Produktion mit sich, dass kein Stück dem anderen gleicht. Kleine Lufteinschlüsse und andere Unregelmäßigkeiten gehören dazu. Zudem nehmen die beiden für sich in Anspruch, aus künstlerischer Perspektive an das Material heranzugehen. Sie verkaufen die Objekte vor allem über internationale Galerien, die auf Design spezialisiert sind, und auf Messen. „Collectible Design“ nennt sich diese Spielart von Gestaltung, die sich mit aufwendigen Herstellungsprozessen, handwerklichem Ansatz und teilweise kostbaren Materialien vom auf Alltagsobjekte fokussierten Industriedesign absetzt. Die Preise sind entsprechend, das günstigste Produkt ist der Krug Sobo für 420 Euro, danach wird es schnell vierstellig. Während es in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich eine eigene Sammlerszene gibt, ist das Interesse hierzulande noch nicht so groß. „Den deutschen Markt wollen wir noch wachkitzeln“, sagt Homburger.
Was aber macht die Magie des Glases aus, dass es auch nach Jahrtausenden Menschen in seinen Bann zieht? Da ist natürlich der alchemistische Prozess des Einschmelzens der Bestandteile bei großer Hitze. Jede Glashütte und jede Glasregion hat ihre eigenen geheimen Rezepturen, etwa was die Zusammensetzung der Farbstoffe angeht. Doch die Magie liegt auch in den Eigenschaften des Materials selbst. „Das Glas hat seinen eigenen Willen“, sagt Weber. „Wenn ich mir einen Glasmacher anschaue, wie er mit dem Glas arbeitet, ist es wie ein Dialog.“ Manchmal scheitere der Dialog, dann scheitere auch das Objekt. Es kommt bei der täglichen Arbeit in den Glashütten häufig vor, dass etwas misslingt, ein Gegenstand reißt oder zerspringt – auch wenn er schon viele Male produziert worden ist. „Manchmal entsteht etwas total Überraschendes. Man denkt sich, das Glas hat einem einen kleinen Hinweis gegeben“, sagt der Designer. Diese Momente erlebe man mit anderen Materialien wie Holz oder Metall weniger.
„Wenn ich mir einen Glasmacher anschaue, wie er mit dem Glas arbeitet, ist es wie ein Dialog.“
PHILIPP WEBER
Manchmal muss das Glas aber auch ein wenig überlistet werden, zum Beispiel für die Leuchtenkollektion Lola, die Analog Glass im vergangenen Jahr herausgebracht hat. Die dreieckige Leuchte ist ein Entwurf des Berliner Architekturbüros Gonzalez Haase und kann einzeln, aber auch zu Clustern gruppiert eingesetzt werden. Das Glas allerdings davon zu überzeugen, in eine dreieckige Hohlform zu fließen, war eine physikalische Herausforderung. Es bevorzugt naturgemäß runde, organische Formen, in die es sich gleichmäßig ausbreiten kann.
Was Weber ebenso faszinierend findet: Anders als andere Materialien kann man Glas im Gestaltungsprozess nicht berühren – es ist schlichtweg zu heiß. Um diese Distanz zu überbrücken, entstanden Werkzeuge wie Glasmacherpfeifen und spezielle Scheren. Die jungen Designer Shantala Chandel und Matthias Gschwendtner haben mit ihrem Krug Sobo für Analog Glass das Werkzeug zum Thema des Entwurfs gemacht: Sie lassen die heiße Glasblase mit einer eigens entwickelten Zange quetschen, um dem Gefäß seine Gestalt zu geben. Die Zange hinterlässt eine vertikale Vertiefung, die als Griffmulde dient.
Doch das Handwerk des Glasmachens ist akut bedroht – schon deshalb, weil es viel Energie benötigt. Die Öfen werden in der Regel mit Gas betrieben und laufen rund um die Uhr. So stellte die älteste deutsche Manufaktur von Poschinger 2021 ihren Betrieb ein, Begründung: gestiegene Gaskosten. Die Manufaktur war 1568 im Bayerischen Wald gegründet worden und seitdem über 15 Generationen ununterbrochen im Besitz der Familie von Poschinger gewesen. In der Designszene war die Manufaktur bekannt unter anderem für Sebastian Herkners Glastisch Bell Table, der dort entwickelt und produziert worden war.
Angesichts dessen pflegen Homburger und Weber ihr Produzentennetzwerk besonders, denn ohne deren Know-how können sie die Objekte nicht herstellen. Zugleich eröffnen sie den Manufakturen mit den „Collectible Design“-Objekten aber auch neue Geschäftsfelder. Beispielsweise der Glashütte Lamberts, ebenfalls im Bayerischen Wald zu Hause und spezialisiert auf mundgeblasenes Flachglas. Dieses spezielle Material wird etwa für Kirchenfenster verwendet und zeichnet sich im Vergleich zu normalem Fensterglas durch seine Unregelmäßigkeiten aus. Dafür wird bei Lamberts die Masse erst zu Zylindern geblasen und dann zu Platten ausgerollt.
Mit ihrem an der zeitgenössischen Kunst geschulten Auge erkannte Homburger das Potential des Materials und entwarf die Spiegelserie Initï. Sie lässt das Flachglas partiell versilbern und mit farbigem Lack überziehen. So entstehen Wandspiegel mit stark grafischer Wirkung, die sowohl aus der Nähe wie aus der Ferne Eindruck machen. Wobei der Begriff „Spiegel“ irreführend ist, denn durch die wellige Struktur spiegeln die Glasobjekte die Wirklichkeit nur sehr verzerrt wider. Genau deshalb passen sie so gut in den San-Gimignano-Turm im Lichtenberger Gewerbegebiet.