Wie, wir sollen wehrhaft werden? Und: Wollen wir
überhaupt kämpfen? Diese Fragen stellt man sich überall in Europa. DIE ZEIT und
ZEIT ONLINE haben deshalb unterschiedliche Autorinnen und Autoren gebeten,
darüber nachzudenken.
Wer in meinem Alter ist, hat die Kriege des 20. Jahrhunderts
nicht miterlebt, kennt die Spannungen des Kalten Kriegs nur aus Büchern und war
am 11. September 2001 gerade geboren. Für die Mehrheit junger Menschen in
Deutschland ohne Flucht- und Migrationserfahrung ist Krieg deshalb vor allem abstrakte
Geschichte, eine coole Videospielgrundlage oder moralische Projektionsfläche.
Vielleicht dreht sich deshalb seit Kriegsbeginn in der
Ukraine der mediale Diskurs so sehr darum, ob man(n) Waffen, Kämpfen und Krieg
persönlich toll findet oder nicht und mit wie viel paternalistischer Argumentation
man dies verteidigen kann.
Das wird dem Ausmaß dessen, was es bedeutet, wenn Boris Pistorius sagt: „kriegstüchtig werden“, aber nicht gerecht. Die Konsequenzen
dieser Kriegstüchtigkeit sind zu groß, um dem Plan des Verteidigungsministers nicht
zu widersprechen. In erster Linie, weil Krieg in Menschenleben bezahlt wird.
Aber auch weil die Zeitenwende nicht nur Budgets und Auslandseinsätze ändert,
sondern die Art, wie wir in Deutschland Konflikte verhandeln. Einiges deutet
darauf hin, dass wir hierzulande bereits mit der ersten Konsequenz dieser ersehnten
Kriegstüchtigkeit leben: Auf Gegenstimmen folgen nicht mehr nur Diskussion und
Streit: In Leipzig droht derzeit
einem 16-Jährigen anscheinend
der Schulverweis, weil er gegen einen Bundeswehrbesuch in seiner Schule
protestierte. Dieses und andere Beispiele stehen für Repression, manchmal auch
für Gewalt.
Es bedarf deshalb einer zeitgerechten Antikriegsposition,
die mehr anbieten kann als einen vereinfachten Pazifismus, dessen Argumentation
bei „Krieg ist blöd, Gewalt mag ich nicht“ aufhört.
Krieg wofür?
Anhänger des Realismus, der theoretischen Grundlage der internationalen
Beziehungen, würden argumentieren, dass Chaos und Krieg ein Naturzustand sind –
und dass allein militärische Allianzen und ein internationales
Machtgleichgewicht Eskalation verhindern können. Kritische, feministische oder
marxistische Theoretikerinnen würden Krieg als ein Element des herrschenden
Systems einordnen – ein Kampf um Macht, Dominanz und Ressourcen. Für sie liegt
Krieg nicht in der Natur des Menschen, sondern in der Natur des Systems.
Aus dem Widerstand gegen solche Formen von Krieg, vor dem
Hintergrund des Ersten Weltkriegs, entstand durch Menschen wie Rosa Luxemburg
und Karl Liebknecht die Antikriegsbewegung. Für sie galt kein vereinfachter
Pazifismus à la „Krieg ist blöd und ich habe keine Lust drauf“. Es ging immer
darum, wessen Krieg geführt wurde, in welchem Interesse, mit welchen
Akteuren und Zielen. Und mit welchen Opfern. In dem Versuch, heute eine
Antikriegsposition zu formulieren, bleiben diese die zentralen Fragen.
Denn es gibt Kriege und bewaffnete Konflikte, die dem
dominanten Muster nicht entsprechen, die die Frage komplizierter machen. Der
Sieg gegen den deutschen Faschismus gehört hierzu ebenso wie antikoloniale
Befreiungskämpfe und bewaffnete Aufstände unter Kolonialherrschaft. Auch heute
sind es beispielsweise bewaffnete kurdische Einheiten, die den Kampf
gegen den IS maßgeblich voranbringen.
Eine zeitgerechte Antikriegsposition darf „Nie wieder Krieg“
fordern und sollte dennoch Platz machen für diese komplizierteren,
widerständigen Kriegsformen. Für Kämpfe gegen Faschismus, gegen
(Fremd-)Herrschaft, für Kämpfe von unten. Das zu fordern, ist nicht naiv und blendet
auch die Konsequenzen von Gewalt und Krieg nicht aus. Eine zeitgerechte
Antikriegsposition erkennt die Widersprüche im Spannungsfeld zwischen
politischer Notwendigkeit und brutalen Folgen an.
Risiko: Deutschland
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine begründet die
sogenannte Zeitenwende und das 2022 verabschiedete Sonderbudget der Bundeswehr.
Ein kriegstüchtiges Deutschland soll abschrecken und Nato-Staaten bei der Abwehr
Russlands unterstützen. Deutschland soll darauf vorbereitet sein, dass der
Krieg sich ausweiten und tiefer in Richtung Westeuropa bewegen könnte.