
Lukas’ Zimmer blieb unverändert. Wie eine Grotte mit ihren beruhigend blauen Wänden. Mit den Seehunden aus Plüsch, die Lukas liebte. Lukas liebte alles, was glitzert, die Oberfläche des nahe gelegenen Sternensees, aber auch Spiegelscherben. Auf Lukas musste pausenlos geachtet, jede Gefahr vorhergesehen werden, denn er selbst konnte es nicht. In Helens Zimmer, daneben gelegen, ist nichts mehr wie zur Kinderzeit. Hier stapelt sich Annes Bügelwäsche. Helens Zimmer hat jetzt rein praktischen Nutzen.
Sie war das nützliche Kind
Wie damals Helen (Hanna Plaß) selbst, wie sie es sieht. Sie war das nützliche Kind, eines, das vor der Zeit die Verantwortung einer Erwachsenen übernehmen musste. Selbst als sie Bauchschmerzen hatte und am Blinddarm operiert werden musste, wurde die Aufmerksamkeit der Mutter Anne (Katharina Böhm) von Lukas (Luke Matt Röntgen) absorbiert. Für Kuscheln war die Mutter zu erschöpft. Der Vater (Stephan Kampwirth) war längst weg, Anne jonglierte Beruf und Kinder allein. Helen war das „gläserne Kind“, durch das die Mutter hindurchsah. Weil das Mädchen ihren liebenswerten Bruder, mit einem Gendefekt geboren, nicht hassen konnte, hasste sie stattdessen Anne und ging nach Lukas’ Beerdigung nach Amerika.
Der ZDF-Film „Das gläserne Kind“ von Alina Schmitt (Drehbuch) und Suki M. Roessel (Regie) macht vieles richtig, wenn es um die Auseinandersetzung der sprachlos Trauernden geht. Annes und Helens Perspektiven spiegeln sich an den Schauplätzen der Geschichte (Kamera Philipp Timme). Am Anfang des Films stehen eine Rückkehr und ein geplanter Aufbruch. Sechs Jahre sind vergangen seit der scheinbar plötzlichen Entfremdung von Mutter und Tochter, sechs Jahre, in denen Anne feststeckte und Helen auf der Suche war. Sie bekam in den USA ein Kind, Luke (Lennox Louis Seigerschmid), wurde vom Kindsvater verlassen, konnte sich das Leben dort nicht mehr leisten. Zurück in München, meldet sie sich beim Vater und wohnt bei ihrer Freundin Stella (Rona Özkan). Anne will auswandern und das Haus verkaufen. So kommen sie in Kontakt.
Katharina Böhm und Hanna Plaß spielen die beiden Beschwerten mit glaubwürdigen emotionalen Nuancen, mit Distanz und Kälte, mit Schuldgefühlen und Verzweiflung und der Liebe für den verstorbenen Lukas. Auf der Ebene der dargestellten Gefühle ist „Das gläserne Kind“ gelungen. Anderes wirkt zu gewollt. Der kleine Luke, als Enkel ein Emotionskatalysator, bringt sich in Lebensgefahr. Erst jetzt sieht Helen, so die Conclusio, was eine Mutter alles durchmacht. Das schwule Nachbarspaar will unbedingt Vater und Vater werden, vielleicht mithilfe einer Leihmutter (die hier entgegen der Realität als legale Möglichkeit des Kinderkriegens hingestellt wird). Ein „Designerbaby“ versucht Anne dem Paar auszureden. Es gehe darum, jedes Kind anzunehmen, wie es ist.
Was stimmt, doch mehr und mehr driftet der Film in eine merkwürdige weibliche Aufopferungslegitimation. Hinzu kommt, dass die von Kampwirth lässig gespielte Nebenrolle des abwesenden Familienvaters unterbelichtet bleibt. Störend ist außerdem, dass es sich um eine gänzlich privat verhandelte Geschichte handelt. Inzwischen gibt es auch hierzulande Unterstützungsangebote nach dem Vorbild der bemerkenswerten britischen Initiative „The Good Grief Project“ für belastete Geschwisterkinder, aber das kommt dem Film nicht in den Sinn. Dem man freilich zugutehalten kann, dass er das Thema zur Sprache bringt.