
Im Internet kursieren diverse millionenfach konsumierte Fun-Videos, in denen schlafenden Menschen mehr oder (zumeist) weniger lustige sogenannte Scherze gespielt werden, damit sie möglichst unkomfortabel aufwachen. „Prank“ nennt sich diese Art von „Versteckte Kamera“ für die Generation Tiktok wohl und in diesen Pranks schrecken unbescholtene Mittagsschläfer panisch aus ihrer Nachtruhe auf, weil irgendwer sie mit 400 Litern Eiswasser überkippt, ihnen ins Gesicht furzt oder einen Chinaböller neben dem Ohr explodieren lässt.
In eine ähnlich nervenzerreißende Aufwachsituation bringt Heidi Klum ihre „Mädchen“ zum Start der neunten Episode der GNTM-Jubiläumsstaffel. Und das sogar höchstpersönlich. Quizfrage: Was könnte mehr Kopfschmerzen erzeugen, als von einer mit einem Industrie-Megafon ausgerüsteten, vollkommen durcheuphorisierten Heidi Klum geweckt zu werden, die in das elektronisch verstärkte Sprachrohr singt? Richtig: Gar nichts. Selbst ein nackter Christian Lindner, der eine von Lothar Matthäus aus dem Englischen ins Deutsche übersetzte Originalversion von Shakespeares Hamlet vorträgt, könnte niemals ein Nervpotential ähnlichen Ranges erzeugen.
Um dem hörorganischen Totalverlust durch die Mischung aus Heulboje und Quietscheentchen zu entgehen, finden sich die 17 verbliebenen Topmodel-Kandidatinnen sicherheitshalber innerhalb von Sekunden vollständig im Model-Foyer ein – vollständig im Sinne von alle, nicht im Sinne von ausreichend bekleidet. Das nämlich sind die wenigsten. Kein Wunder. Auch als angehendes Model schläft man üblicherweise nicht im Skianzug.
Out of Bed Look, aber unvorbereitet
Wer jetzt allerdings gedacht hatte, das Grauen sei mit der Einstellung des Klum’schen Wecksingsangs bereits vorüber, hat die Rechnung ohne Fotograf Yu Tsai gemacht. Voller erwartungsfroher Schadenfreude verkündet Klum nämlich, die Kandidatinnen sollten sich so, wie der Bettgott sie geschaffen hatte, umgehend im nahegelegenen Fotostudio einfinden. Out of Bed Look, aber unvorbereitet. Normalerweise sagt man als Model ja: Wenn man mir genügend Zeit für Hairstyling gibt, kann ich auch so aussehen, als wäre ich gerade aus dem Bett gefallen. Jetzt aber: Abmarsch zum Sedcard-Shooting im Schlafgewand. Kein Makeup, kein Hairstyling, kein Garderobenwechsel. Realistischer geht’s kaum.

Klums halbnächtlicher Überfall bleibt selbstredend nicht unkommentiert: „Ich schätze Heidi eigentlich als lieben Menschen ein“, gibt beispielsweise Kandidatin Lulu zu Protokoll. Das Zitat habe ich mir extra nochmal ausführlich in der Superzeitlupe angehört. Nicht, dass es am Ende wieder Zuschauerpost von Pro7-Volontären hagelt, die nachträgliche Korrekturschleifen über O-Töne laufen lassen möchten. Stichwort O-Ton. Als sich die verblüffte Modelcombo in Pyjama und Schlafrock ungläubig in Bewegung Richtung Set setzt, ertönen aus dem Kandidatinnen-Kader Beschwerden über eine Reihe von unerledigten Morgenritualen verschiedenster Dringlichkeitsstufen. Das geht von „Ich habe meine Zähne nicht geputzt“ über „Ich muss Pipi“ bis hin zu „Meine Haare sind Katastrophe“. So viel angestauter Schlafraub-Unmut, dass nicht mal Zeit für unbestimmte Artikel bleibt. Und da wissen sie noch gar nicht, dass sie gleich auf den Klaus Kinski der Fotografie treffen werden.
Kaum im Halbwachmodus ins Studio rübergeschlafwandelt, empfängt Megafon-Mama Heidi die ungläubigen Nachtgewand-Protagonistinnen mit der konzeptionellen Marschroute des Tages: „Yu Tsais Idee, meine Models so zu fotografieren, wie sie aufgewacht sind, fand ich mega!“ Nicht ganz so mega findet das der Großteil des Model-Kollektivs. Lediglich Daniela, von den kreativ unterforderten Spitznamen-Creators im Model-Loft nur Dani genannt, scheint sich mit der Situation ganz gut arrangieren zu können. Sie kennt Yu Tsai aus ihrem umfangreichen GNTM-Vorbereitungs-Programm aus etwa 700 Stunden Mediathek-Material, hat darüber hinaus rein zufällig frisch epiliert und im sexy Body geschlafen und wirkt also, anders als die meisten ihrer Kolleginnen, outfit- und teintrelevant wenig überrumpelt.
„Du langweilst mich!“
Noch wacher als Dani wirkt eigentlich nur noch Starfotograf Yu Tsai, der heute bereits die zehnte Generation Topmodels demütigen wird. Dass ausgerechnet der Mann schon zum zehnten Mal dabei ist, der es offenbar für eine wertvolle Lektion hält, angehende Models mit Kommentaren wie „du langweilst mich!“ während eines Shootings abzuqualifizieren, sagt einiges über die charakterliche Ausrichtung des Formats.
Sein bahnbrechendes Sedcard-Konzept „Come as you are“ entwickelt sich als fulminanter Erfolg. Jedenfalls, wenn man Lust auf ein eher durchwachsen vorgetragenes Misogynie-Tutorial hat und sich über einen taktischen Geniestreich freut, bei dem junge Frauen ohne Shooting-Erfahrung in eine Wolke aus verbalen Erniedrigungen eingehüllt werden.

Um die perfide Machtgefälle-Inszenierung wirklich bis in den letzten Winkel der Desavouierung auszukosten, demonstriert Yu Tsai schnell, was die eigentliche Triebfeder hinter der insbesondere für Sedcard-Aufnahmen eher ungewöhnlichen „ungeschminkt, unfrisiert, ungestylt“-Sensationstaktik ist. Mal abgesehen von Streberinnen wie Daniela schlafen die meisten Modelanwärterinnen in gemütlichen, eher sehr großzügig geschnittenen und nicht zwangsläufig für Sedcard-Shootings prädestinierter Freizeitkleidung. Ein hervorragendes Einfallstor für den Vorschlag, die Kleidung doch mal schnell für ein grandioses Bewerbungsfoto loszuwerden. Und das nutzt Yu Tsai konsequenter als Heidi Klum das Plusquamperfekt.
Bei drei von vier Kandidatinnen fällt mindestens das Beinkleid und sie posieren in oftmals so knappen Slips, dass der Verpixel-Praktikant von Pro7 mit seinen diese Woche gesammelten Überstunden locker an der Rallye Paris-Dakar teilnehmen kann. Viele stehen auf Anregung des vorzeigefeministischen Fotografen schnell auch oben ohne im Set, stets applaudierend durchgewunken von Heidi Klum, der das Wohlergehen ihrer Schutzbefohlenen offiziell stets eine Herzensangelegenheit ist.
„Das wurde dann ein bisschen respektlos“
Mit wenigen Ausnahmen wie Daniela, Xenia, Zoe oder Lisa hat Motivationsguru Yu Tsai für jede Branchennovizin aufbauende Worte parat, um ihr den Morgen so angenehm wie möglich zu gestalten. Kandidatin Lulu beispielsweise attestiert er: „Du siehst aus, als würdest du hier hinscheißen!“ Spätestens an dieser Stelle verliert Yu Tsai nicht nur Großteile des Modelkaders („Das wurde dann ein bisschen respektlos!“), sondern auch das Publikum. Auf Social Media trenden kurzzeitig Begriffe wie „Gaslighting“. Und um im Speziellen Lulu etwas in Schutz zu nehmen: Es ist nicht ungewöhnlich, wenn man direkt nach dem Aufwachen erstmal auf Toilette muss. Und da freut man sich dann ja auch, wenn nicht unbedingt Yu Tsai in der Nähe ist, um in einem schlechtsitzenden Anzug fäkalsprachliche Profitipps einzustreuen.

Aaliyah („Als Fotograf sollte er eigentlich wissen, wie man ein Model handlet“) eröffnet Yu Tsai, sie sei „langweilig“. Jules Vier-Elemente-Tattoo kommentiert er mit der gewinnbringenden Einschätzung, er sähe „weder Feuer, Wasser, Erde noch Luft, sondern nur Trägheit und Müdigkeit“. Insgesamt bringt er den Vorwurf „Du siehst schläfrig aus!“ in hübscher Regelmäßigkeit bei mehreren Kandidatinnen. Was für eine überraschende Analyse, wo die Mädchen doch einige Minuten zuvor erst rüde aus dem Schlaf gerissen wurden. Nächste Woche müssen die Models dann 40 Kilo Pommes essen, damit Yu Tsai in seiner grenzenlosen Genialität attestieren kann: „Ihr wirkt satt!“
Was auch immer „Matcha Latta“ ist
Heidi Klum empfindet Yu Tsais Umgangsformen offenbar handelsüblich und charakterkonform. Statt sich mal schützend vor ihre Models zu stellen, findet sie die Ausfälle ihres Wahlfotografen sogar außergewöhnlich lustig. Mehrfach beteuert sie unaufgefordert, sie hätte sich soeben vor Lachen an ihrem „Matcha Latta“ verschluckt, was auch immer das ist. Wahrscheinlich sowas wie ein Cabbutschino. Zum Glück ist Markus Krebs nicht in der Nähe. Seine seit 40 Jahren auf allen Stammtischen der Nation durchgereichten, später in StudiVZ-Gruppennamen ausgelagerten und schließlich zu Twitter durchgesickerten, naja, Witze, hätten bei Heidi Klum an diesem Morgen sicher zu lachflashbedingter Schnappatmung geführt.
Nun mag meine Einordnung dieses Wohlfühl-Shootings auf den ersten Blick etwas überkritisch und – um mal Thomas-Hayo-Vibes zu versprühen – overfeministisch wirken, aber ich möchte noch zwei Dinge anmerken. Models werden beruflich durchaus mit Jobs konfrontiert werden, bei denen sie mindestens so nackt operieren müssen wie in dieser Folge. Diese Jobs allerdings werden ihnen vorher angekündigt, sie können sich damit arrangieren, sich entsprechend vorbereiten und einstellen – oder auch nicht. Niemand zwingt sie, Nacktjobs anzunehmen. Es ist durchaus nicht ungewöhnlich in der Branche, wenn Models beispielsweise Oben-Ohne-Bilder kategorisch ablehnen und ihre Agenturen solche Anfragen entsprechend umgehend ablehnen.
Es geht nicht um „come as you are“
Und die bigotte Absurdität, sich als virtuoser Konzept-Einstein dafür feiern zu lassen, den Mädchen zu suggerieren, sie würden „so wie sie sind“ für eine möglichst ungetrübte Authentizität abgelichtet, nur um aus dem „come as you are“ schnellstmöglich ein „come doch nicht as you are, sondern mach dich lieber nackig“ zu machen, ist da noch gar nicht mit eingepreist.
Was könnte es also Schöneres geben als vom stimmlagig tinnituskontroversen Goldkehlchen Heidi Klum zur nachtschlafenden Stunde per Megafon aus dem Tiefschlaf gesungen zu werden, nur um sich anschließend ungeschminkt, unfrisiert und nackt von Yu Tsai durchbeleidigen zu lassen? Mich würde in dem Kontext mal interessieren, wie gut Yu Tsais Bilder am Ende des Tages wären, wenn er morgens aus dem Schlaf gerissen würde und dann statt Kamera und Lichtaufbau nur mit drei abgebrochenen Buntstiften und einer flackernden Taschenlampe arbeiten dürfte.
So oder so, dieses durchgehend branchenfremd scheinchoreographierte Shooting-Szenario reiht sich auf der üppig gefüllten Realitäts-Skala der Modelfestspiele mal wieder auf einer soliden 12 von 10 ein. Und damit entlasse ich die geneigten Leser für diese Woche. Nicht ohne Vorfreude anzukündigen, dass der emotionale Wellness-Papst Yu Tsai kommende Woche direkt wieder am Set auftaucht. Was auch nur konsequent ist. Immerhin hat er noch keines der männlichen Models verbal abgehalftert. Bis dann!