
Einen Aufschrei würde es in Paris oder London, Barcelona oder Kopenhagen geben, kollektives Entsetzen, dramatische Schlagzeilen. Ein Achselzucken, das ist alles, was Berlin zustande bringt, vermischt mit ein wenig Spott und Häme, vielleicht noch garniert mit dem Schnauzespruch „Nu aba ran an de Buletten!“
Mit erschütternder Gleichgültigkeit nimmt es die deutsche Hauptstadt hin, dass ihre Glanzzeit als globaler Hotspot der Spitzenküche nach wenigen Jahren schon wieder vorbei zu sein und die Eintönigkeit des kulinarischen Mittelmaßes abermals zu triumphieren scheint. Ein Feinschmeckerrestaurant nach dem nächsten gibt auf, und den Berlinern ist das herzlich egal, solange kein Mangel an Currywürsten und Fleischklopsen besteht und es genug „Spätis“ gibt, an denen man sich mit seinem Wegbier aus der Pfandflasche versorgen kann.
Nach der Blüte lichten sich die Reihen
In der zweiten Dekade des neuen Jahrtausends verwandelte sich die notorische kulinarische Diaspora an Spree und Havel wie von Wunderhand in einen der aufregendsten Orte für Gourmets in Europa. Aus einer Handvoll Lokalen mit Michelin-Sternen wurden binnen kurzer Zeit 27 Restaurants, die dem Guide Michelin hohe und höchste Weihen Wert waren. Und an die Stelle von Epigonen der klassischen französischen Haute Cuisine traten avantgardistische Köche mit ganz eigenen, unverwechselbaren Stilen. Marco Müller erkochte sich in seinem Restaurant „Rutz“ mit einer rigorosen Rückbesinnung auf deutsche Küchentraditionen und traditionelle Fermentationstechniken als erster Berliner Chef drei Michelin-Sterne. Billy Wagner und Micha Schäfer machten ihr „Nobelhart & Schmutzig“ dank eines radikalen Regionalismus zu einer weltweit beachteten Feinschmeckeradresse. Sebastian Frank entwickelt im „Horváth“ die Küche seiner österreichischen Heimat so feinsinnig und virtuos wie kaum ein zweiter Koch weiter und wird dafür vom Michelin mit zwei Sternen prämiert – genauso wie das „Coda“ von René Frank, der das Wagnis eingeht, sein Menü ausschließlich mit Desserts zu bestreiten.

Jetzt aber lichten sich die Reihen. Aus den 27 Sternehäusern sind 19 geworden, und wohl kein einziger Spitzenkoch in Berlin sieht seine Situation und schon gar nicht seine Zukunft rosarot. Alle müssen kämpfen, viele haben schon verloren. Das „Ernst“ ist zu, das „Kin Dee“, das „No Name“, das „Volt“, das „Cordo“, das „Richard“. Sebastian Frank versucht zu retten, was zu retten ist, und bietet jetzt auch ein kleineres Sieben-Gang-Menü für 145 Euro an. Billy Wagner hat das Konzept seines Lokals noch radikaler umgestellt. Zum halben Preis gibt es jetzt die Hälfte der Gänge, die mit deutlich weniger Aufwand zubereitet werden. Und schneller geht das Essen auch, weil das „Nobelhart & Schmutzig“ nur dank einer Doppelbelegung am Abend auf genügend Umsatz kommt, um zu überleben.
Keine Begeisterung für die Feinschmeckerei
Die Krise der Berliner Spitzengastronomie ist deshalb so eklatant, weil sie gleich drei Ursachen hat. Zum Ersten leidet sie, wie die Gastronomen in ganz Deutschland, unter fehlendem Personal, gestiegenen Kosten, der Erhöhung der Mehrwertsteuer nach der Corona-Pandemie von sieben auf 19 Prozent und der neuen Sparsamkeit der Gäste in Zeiten von Krieg und Inflation.
Zum Zweiten fehlen den Sternehäusern schmerzhaft die internationalen Besucher, die in den fetten Jahren fast die Hälfte des Publikums stellten – bei Tim Raue, dem international bekanntesten Berliner Koch, oft noch deutlich mehr – und sich nach der drastisch abgekühlten Berlin-Begeisterung nun neue Ziele suchen. Davon profitiert etwa Barcelona spektakulär, dort gibt es inzwischen bei noch nicht einmal halb so vielen Einwohnern viermal so viele Drei-Sterne-Restaurants wie in Berlin.

Und zum Dritten macht den besten Lokale der Stadt die hartnäckige Weigerung der allermeisten Berliner schwer zu schaffen, sich trotz des Booms der vergangenen Jahre für die Feinschmeckerei zu begeistern. Sie stehen in Treue fest zu ihrer Currywurst und bei Krasselt’s Imbiss am Steglitzer Damm geduldig Schlange, zeigen den Sternen die kalte Schulter, wenn nicht gleich in gewohnter Berliner Höflichkeit den Stinkefinger, finden es noch nicht einmal besonders schlimm, dass die einst legendäre Feinkostabteilung des KaDeWe immer trostloser wird, und sorgen so dafür, dass Berlin – wie im Gassenhauer – immer Berlin bleibt, die Welthauptstadt des Wegbiers und des Döner Kebab.
So stirbt mit dem Niedergang der chimärenhaften Berliner Feinschmeckerblüte auch die letzte Hoffnung, dass Deutschland eines Tages ernsthaft in tiefer Liebe zum guten Essen entbrennen und es so schätzen lernen könnte, wie es in Spanien, Italien oder Frankreich selbstverständlich ist; dass man sich irgendwann mit echter, guter Hausmannskost in Deutschlands Dörfern verköstigen kann, deren Gastronomie heute fest in der Fast Food-Hand von vollkommen austauschbaren Istanbul-Imbissen und Schnell-Asiaten ist; dass der Preis eines Degustationsmenüs nicht mehr skandalisiert wird, obwohl er kaum jenen zweier Tankfüllungen übersteigt; dass die Kinder Köche werden wollen und nicht Fußballspieler; und dass die Deutschen endlich begreifen, wie unerschöpflich die Quelle des Glücks ist, die uns der gute Geschmack schenkt.