Wo wütende Bürger Beamte ermorden

Als Zhao Liping mit einem Messer in der Hand die Kommunalverwaltung von Nantong betrat, war nur die Gemeindemitarbeiterin Shen Junyan an ihrem Schreibtisch. Sie hatte mit dem Fall wenig zu tun, wegen dem Zhao monatelang bei der Behörde vorstellig geworden war: Die Gemeinde hatte ihm seine Sozialhilfe in Höhe von monatlich achtzig Euro gestrichen. Denn Zhao hatte nach dem Tod seiner Mutter 2800 Euro von Freunden und Verwandten erhalten.

Das ist auf den Bildschirmen der Behörden sofort auf­getaucht, Zhao wurde die Sozialhilfe gekappt, und sein Einspruch abgewiesen. Dann stach der 54 Jahre alte Mann zu. Shen Junyan starb in ihrem Büro, berichtete die Lokalzeitung „Wöchentliches Leben“. Zhao ging nach Hause und beging durch die Einnahme eines tödlichen Pestizids Suizid.

Der Mord an der Beamtin ist einer von zahlreichen Fällen seit dem vergangenen Sommer, bei denen aufgebrachte Chinesen Beamte und andere Provinzvertreter der Regierung getötet haben. Für viele Chinesen ist das Leben schwerer ge­worden seit den drakonischen Corona-Maßnahmen, dem Platzen der Immo­bilienblase und dem Wirtschaftsabschwung. Zudem legt die Zentralre­gie­rung den Fokus auf die Industrie­pro­duktion und den Export, weniger auf das finanzielle Wohl­ergehen des Volkes. Die Inlandsnachfrage ist schwach, das Vermögen der großen Mehrheit der Haushalte schrumpft.

Das trifft insbesondere zahlreiche Provinzen der Volksrepublik, deren Verwaltungen ebenfalls sparen müssen. Eine Gemeindemitarbeiterin der Provinz Zhejiang berichtete im Oktober in einer Wochenzeitung von den Finanzschwierigkeiten der Behörden. So gebe es Vorgaben, die Zahl der Sozialhilfeempfänger zu verringern. In einem Dorf, für das sie zuständig sei, wurde etwa die Zahl der Beihilfeempfänger von dreißig auf zwanzig reduziert.

Andernorts konfiszieren Lokalverwaltungen Wohngebäude, worauf es in der Provinz Shanxi zu einem weiteren Mord an einem ranghohen Beamten kam. Im Juni wurde der Chef der örtlichen Konsultativkonferenz des Qin-Distrikts, Guo Jianyu, vor seiner eigenen Wohnung von einem Mann erstochen, dessen Wohnhaus von den Behörden abgerissen worden war. Guo war offiziell für die Abrissarbeiten in dem Bezirk zuständig. Eine Kompensation hatte der Täter nicht erhalten.

Beamte führen nur noch Befehle aus

Laut örtlichen Medien hatte es sich um ein altes, baufälliges Gebäude gehandelt, das nach dem Konkurs einer Getreidefabrik vor zwei Jahrzehnten aufgegeben worden war. Über die Jahre hatte der spätere Täter An Yaohong das alte Gebäude repariert, mehrere Tausend Euro in­vestiert und zusätzlich zu seiner eigenen Wohnung eine Reihe weiterer Zimmer eingebaut, möbliert und anschließend vermietet. Bis die Lokalbehörden das Gebäude vor wenigen Monaten abreißen ließen, weil sie das Gelände anderweitig zu Geld machen wollten. An Yaohong konnte seinen Anspruch auf das Gebäude nicht belegen, verlor dadurch seine Wohnung und alle seine Einkünfte.

Der F.A.Z sind zehn ähnliche Fälle bekannt, über die in Lokalzeitungen und in den sozialen Medien berichtet wurde. Die Dunkelziffer dürfte weit höher sein. „Wenn gewöhnliche Chinesen von Regierungsbeamten ungerecht behandelt wurden, hatten sie traditionell Wege, sich zu beschweren“, sagt Victor Shih, Professor für chinesische Politik an der University of California in San Diego. „Die Welle der Gewalt gegen Beamte deutet darauf hin, dass einige dieser traditionellen Wege als unwirksam gelten.“

Die Ermächtigung lokaler Parteisekretäre zulasten der Entscheidungsmöglichkeiten lokaler Beamter könnte dazu geführt haben, dass diese Kanäle immer we­niger effektiv seien, fügt Shih hinzu. Die Parteisekretäre haben tendenziell übergeordnete Vorgaben zu erfüllen, deren Spielraum eng ist. Eingaben auf lo­kaler Ebene erreichen sie seltener. Und bleiben selbst dann häufiger wirkungslos. „Einige verzweifelte Personen haben daraufhin zu extremen Maßnahmen ge­griffen.“

Da ist die Richterin Wang Jiajia, die im August in Henan von einem Bürger erstochen wurde, der mit ihrem Urteil im Prozess über einen Autounfall nicht zufrieden war. Oder der Bürgermeister Kuang Haijuan in der Provinz Jiangxi, der im September umgebracht wurde, ohne dass die Behörden weitere Informationen zu dem Fall bekannt geben. Da ist der Leiter der städtischen Marktregulierungsbehörde von Zouping namens Miao, der im Juli wegen „finanzieller Streitigkeiten“ ermordet wurde.

Weiter ungeklärt ist außerdem der Mord an Liu Wenjie, der Leiterin der Haushaltsabteilung und der Finanzaufsichtsbehörde der Provinz Hunan. Liu war eine der ranghöchsten Finanzbeamtinnen der 66-Millionen-Einwohner-Provinz. Sie wurde im September beim Sturz aus ihrer Dienstwohnung im dreizehnten Stock getötet. Nach Angaben der örtlichen Polizei wurden zwei männliche Verdächtige ebenfalls durch den Sturz aus der Wohnung getötet. Einer der Verdächtigen soll eine Investmentgesellschaft in Hunan geführt haben.

Xi reagiert mit einem Schlagwort

Der Führung ist die fragile Lage in Teilen der Gesellschaft offensichtlich bekannt. So betonte das Zentralkomitee auf seiner wichtigen Dritten Plenums-Sitzung im Sommer, dass China „ein dichtes Netz zur Prävention und Kontrolle von Risiken im Bereich der sozialen Sicherheit knüpfen und die soziale Stabilität wirksam aufrechterhalten“ müsse.

„Soziale Stabilität“ ist ein Schlagwort, mit dem die Staatsmedien den Staats- und Parteichef Xi Jinping derzeit wieder häufiger zitieren. Zuletzt vor wenigen Tagen, nachdem ein Mann sein Auto in eine Sportlergruppe in der Provinz Guangdong gelenkt und dabei mindestens 35 Menschen getötet hatte. Er war wütend über eine Gerichtsentscheidung zur Aufteilung seines Vermögens nach seiner Scheidung. Auf Seite eins der „Volkszeitung“ forderte Xi sodann „alle Gemeinden und zuständigen Behörden“ auf, Leh­ren zu ziehen, um „die soziale Stabilität zu gewährleisten.“

Schon 2021 hatte der stellvertretende Dekan der Abteilung für öffentliche Verwaltung der einflussreichen Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften darauf hingewiesen, dass das Verhältnis zwischen Beamten und der Öffentlichkeit stark angespannt ist. „Die Beamten an der Basis sind mit übermäßigen ‚Amtspflichten‘ belastet“, schrieb Vizedekan Zhou Shaolai, noch unter dem Eindruck der Corona-Pandemie. „Sie sind ständig damit beschäftigt, Befehle von oben zu erfüllen.“

Das Recht auf Zuweisung von Haushaltsmitteln und die Aufsichtsbefugnisse liegen weitgehend in den Händen der Parteiabteilungen auf Kreisebene, sodass die Beamten an der Basis keinen Spielraum für „Verhandlungen“ haben, schrieb Zhou. „Die Qualität der Auf­gabener­füllung wirkt sich jedoch direkt auf ihre Karriereaussichten, Prämien und Leistungen aus.“ Das bedeutet: Man muss die politischen Vorgaben erfüllen, gleich welche Folgen das für den Einzelfall hat. Und heute lauten die Vorgaben auf der Provinzebene stärker denn je: Sparen.

Das hat Auswirkungen auf weite Teile der Bevölkerung, für die China kein soziales Sicherheitsnetz aufgebaut hat. Bis auf Weiteres fließt der große Teil der Staatsausgaben in die Industrieproduktion und den Aufbau einer „Festungs­wirtschaft“ zur eigenen Absicherung im Systemkonflikt gegen die USA.

Die soziale Spaltung nimmt zu

Durch die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten und in Erwartung eines neuen Handelskrieges dürfte sich daran wenig ändern. „Einerseits ist die chinesische Regierung besser vorbereitet auf Trump, als sie es zu dessen erster Amtszeit war“, sagt Scott Kennedy, Leiter der China­abteilung der amerikanischen Denk­fabrik CSIS. „Andererseits ist China als Ganzes vielleicht ein bisschen anfälliger als damals“, fügt Kennedy in Peking an. Ausgaben für Soziales oder den Konsum dürften weiter keine Priorität haben.

Chinesische Sozialwissenschaftler warnen vor den Folgen mittlerweile deutlich. „Die weitverbreitete Präsenz einer negativen Stimmung stellt ein latentes po­litisches Risiko dar“, schrieb der Sozialwissenschaftler Han Linxiu im Juli in der akademischen Fachzeitschrift „Sekretär“. In wissenschaftlichen Papieren ist der Freiraum, sich auszudrücken, größer als in den staatlichen Massenmedien. So beklagte Liu die ungleiche Verteilung von Vermögen und Einkommen.

Ein erheblicher Anteil der in Städten lebenden und arbeitenden Landbewohner habe keinen vollständigen Zugang zu hochwertiger städtischer Sozialversicherung und dem Lebensstandard, so Liu, „und innerhalb der Städte besteht eine implizite, auf wirtschaftlichen Faktoren beruhende Spaltung“. Zudem seien Chinas Sozialsysteme unzureichend, „ins­besondere in ländlichen Gebieten, wo Lebensstandard und Sozial­hilfe unterentwickelt sind und hinter den städtischen Standards zurückbleiben, was den Aufstieg weiter erschwert“.

Liu warnt vor „politischer Apathie“ und schließt in seltener Deutlichkeit: „Wenn Einzelpersonen keine Hoffnung mehr auf formelle Möglichkeiten haben, ihre Meinung zu äußern, greifen sie möglicherweise auf informelle Wege zurück, um ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen, was die soziale Stabilität beeinträchtigen kann.“