

Schon im Kindesalter glauben wir: Im Dunkeln, da lauert die Gefahr. Denn wenn die Nacht hereinbricht, sieht der Kleiderberg im Kinderzimmer schnell aus wie eine bucklige Hexe, an der knarzenden Tür treiben ganz bestimmt Gespenster ihr Unwesen, und unter dem Bett verbirgt sich ganz sicher ein furchterregendes Monster. Unsere eigene Phantasie spielt uns einen Streich. Und doch bewahrt diese Angst, die evolutionär bedingt ist, auch vor vorschnellen Handlungen.
Aber Angst kann lähmen. Blickt man zurück, wünscht man sich, man wäre doch ein klein wenig mutiger gewesen. Regelmäßig quält die Frage: „Was wäre, wenn?“ Das kann sich auf das schöne Mädchen an der Supermarktkasse beziehen, für das man heimlich schwärmt, das aber plötzlich in eine andere Stadt zieht – ohne dass es je von der eigenen Schwärmerei erfährt. Oder aber auf den ausbeuterischen Chef, dem man zum Ende des Anstellungsverhältnisses gerne noch mal die Meinung gegeigt hätte. In Vietnam sind es die schönen Cafés, Restaurants und Bars, die sich oft in ominösen Gassen und in maroden Gebäuden verstecken: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, das ist hier das Motto.
Eine Bar wie im Film
Auch bei „Wong Bar Wine“ in Hanoi ist das so. Aber das Konzept ist so besonders, dass die seltsamste Gasse nicht von dem Besuch hätte abhalten können. Der Name ist angelehnt an Wong Kar-wai, einen Regisseur aus Hongkong. Hierzulande eher etwas für Liebhaber, so schwärmen etwa Quentin Tarantino und Sofia Coppola für den 1958 in Schanghai geborenen Wong und ließen sich in ihrer Arbeit schon von ihm inspirieren. In seinen Filmen geht es um Themen wie Liebe und Einsamkeit, die Handlung wird oft non-linear erzählt, Farben wechseln je nach Stimmung der Charaktere. Während Hollywood sich lange weigerte, nicht-weißen Menschen Zugang zur Filmwelt zu gewähren, zeigen Regisseure wie Wong: An fehlender Begabung lag das nie.
Monate nachdem Instagram vorgeschlagen hat, die „Wong Bar Wine“ zu besuchen, folgt also die Ortsbegehung. Und Google Maps lotst – in eine dunkle Gasse. Kurz zuvor hat es geregnet, in den Pfützen spiegeln sich die Lichter, die Straße mündet in Dunkelheit. Folgt man dem Weg, findet man das Geschäft eines Schusters, in dem sich die Schuhe stapeln, über einer Maschine hängt seine lederne Schürze. Und schließlich: die Bar. Schwere Schiebetüren, rot leuchtende Laternen, an der Tür klebt ein Foto aus dem Film „In the Mood for Love“, darauf steht geschrieben: „Du hast also deinen Weg hierher gefunden. Wir danken dir.“
Rotlicht, Pinot Noir und Projektionen
Es ist 19 Uhr, eine Stunde nach Öffnung. Der Barkeeper begrüßt seinen ersten Gast in dem von rotem Licht durchfluteten Raum. „Wong Bar Wine“ bietet zum Beispiel Pinot Noir aus Frankreich, einen Cabernet Sauvignon aus Italien, einen Gewürztraminer aus dem Elsass. Die Weinkarte ist gespickt mit Zitaten von F. Scott Fitzgerald und Zeichnungen aus „Der kleine Prinz“. Und sie erzählt davon, wie die Bar entstand, die 2022 von einem Franzosen und einem Vietnamesen eröffnet wurde.
Im Innern der Bar werden Szenen aus Wong-Kar-wai-Filmen an die Wand projiziert, an den Wänden hängen Filmplakate, ringsherum liegen Bücher, eine Schreibmaschine und eine alte Musikbox. Kerzen flackern auf den Tischen, zum Glas Wein wird ein Tellerchen mit Chips und Dip gereicht. Zwischendurch fährt ein älterer Herr mit Bart auf seinem Moped vor, auf dem Gepäckträger eine Kiste: Nachschub.
Verreist man allein, trifft man ständig auf Menschen, mit denen man die interessantesten Gespräche führt. Dazu gehört auch der Barkeeper an diesem Abend. Allein mit ihm in der „Wong Bar Wine“ zu sein, bietet die Chance, alles zu fragen, was man von einem Barkeeper schon immer wissen wollte. Vor ein paar Monaten berichtete die „New York Times“ über die Bar, seither kämen auch internationale Gäste, erzählt er. Aber dass manchmal nicht so viel los ist wie an diesem Abend, findet er gut. Auch er wirkt fast so, als wäre er einem Film von Wong entsprungen.
Man sieht: Im Dunkeln, da warten manchmal auch schöne Bars.
