Ihre lange gehegte Sehnsucht nach der großen Fußballwelt haben die norwegischen Fans am Donnerstagabend in einer beeindruckenden Choreografie sichtbar gemacht. Vor dem WM-Qualifikationsspiel gegen Estland war auf den Rängen in Oslo ein Wikingerschiff auf stürmischer See zu sehen – jenes Gefährt, mit dem die Vorfahren vieler Norweger im Mittelalter in Europa und darüber hinaus auf Eroberungstour zogen. Im Boot der Stadion-Choreo saßen die talentiertesten Fußballer Norwegens: Erling Haaland, 25, Oscar Bobb, 22, und Antonio Nusa, 20, während Kapitän Martin Ödegaard, 26, leicht versetzt am Steuer stand. Haaland hielt ein Schwert in der Hand, Bobb einen Ruderstab, Nusa einen Fußball. Gemeinsam blickten sie in die unendliche Ferne, wo nicht nur die Sonne formvollendet und farbenfroh aufging – sondern bereits der goldene Weltpokal leuchtete.
Seit einem Vierteljahrhundert hatten sich Generationen norwegischer Nationalmannschaften vergeblich abgemüht, sich für Welt- oder Europameisterschaften zu qualifizieren. Zwölfmal stachen sie hoffnungsfroh in See, doch ihre Vorhaben kenterten regelmäßig mehr oder weniger spektakulär. Zuletzt nahm Norwegen 1998 an einer WM teil, davor auch nur 1938 und 1994; hinzu kommt die einzige EM-Teilnahme im Jahr 2000. Von den oben erwähnten Spielern war noch keiner geboren, als die Fußballer des Königreichs vor 28 Jahren bei der WM in Frankreich sensationell das Achtelfinale erreichten (unter anderem durch einen Sieg gegen den Weltmeister Brasilien). Solche Geschichten kennen Haaland & Co. nur aus alten Erzählungen, etwa von ihrem Trainer Stale Solbakken, 57, der selbst als Spieler 1998 und 2000 im Norwegen-Kader stand.
Nun aber haben Ödegaard, Haaland und ihre Kollegen tatsächlich wieder mal ein norwegisches Fußballschiff sicher durch alle Wogen gesteuert – zur WM 2026 in den USA, Kanada und Mexiko. Nach dem 4:1 (0:0) gegen Estland ist die Teilnahme an der Endrunde de facto gesichert. Vor dem abschließenden direkten Duell mit dem Gruppenzweiten Italien liegt Norwegen drei Punkte und 17 Tore im Torverhältnis voraus. Selbst ein 0:8 im Mailänder San Siro würde Platz eins bedeuten. Die Norweger haben die Freiheitsstatue vor New York quasi bereits passiert, sie müssen nur noch den Anker werfen und Land betreten – Routine für Wikinger.
Entsprechend entlud sich im Ullevaal-Stadion nach dem Abpfiff ein rauschhafter Jubel, der an die Skipartys am nur sechs Kilometer entfernten Holmenkollen erinnerte. Luftschlangen in den Landesfarben Rot, Weiß und Dunkelblau wirbelten über die Tribünen, die Spieler tanzten zu heimischen Volksliedern, es gab Cheeseburger und die Fans sangen: „Norwegen fährt zur WM.“ König Harald V. sowie Kronprinz Haakon und Kronprinzessin Mette-Marit gaben sich live in der Stadionloge die Ehre.
Der Experte Fjörtoft sieht den Ödegaard-Transfer zu Real Madrid vor zehn Jahren als positiven Wendepunkt
„Ich bin ein erleichterter Mann, wirklich …“, stammelte Solbakken nach dem Spiel. Der Coach, in der Bundesliga durch ein Kurzengagement beim 1. FC Köln in der Saison 2011/12 bekannt geworden, hat Ende 2020 die vermutlich talentierteste Männer-Nationalmannschaft der norwegischen Fußballhistorie übernommen. Die Erfolge seiner berühmten Vorgänger Egil Olsen (1990-1998; 2009-2013) und Nils Johan Semb (1998-2003), die Norwegen zuletzt zu Großereignissen führten, hätten ihn „wie ein Albtraum“ verfolgt, gab Solbakken nun zu. Der Druck war immens, mit jedem Anlauf erhöhte er sich. Vor allem die verpasste EM 2024 in Deutschland hatte die stolze Nation empfindlich getroffen.
Die Erwartungen im Land waren der Mannschaft in der ersten Halbzeit gegen Estland anzumerken: Die Spieler agierten verkrampft – bis die beiden Doppeltorschützen Alexander Sörloth (50./52.) und Haaland (56./62.) alle Restzweifel beseitigten. „Das schönste Tor meines Lebens“, sagte Sörloth erleichtert. Der Atlético-Madrid-Stürmer ist Teil der herausragenden Offensive um Rekordschütze Haaland, Bobb (beide Manchester City), Nusa (RB Leipzig) und den derzeit verletzten Ödegaard (FC Arsenal), die in der Qualifikation satte 33 Tore erzielt hat. Ein weiterer Treffer gegen Italien würde den bislang gemeinsam von Deutschland und England gehaltenen Torrekord in acht Gruppenspielen übertreffen.
„Ja, wir lieben dieses Team“, schrieb der Stadionbesucher Jan Aage Fjörtoft auf X – eine Anspielung auf die Nationalhymne „Ja, vi elsker dette landet“. Tags darauf erklärt der ehemalige norwegische Stürmer, der 1994 mit Haalands Vater Alf-Inge an der WM 1994 in den USA teilnahm und drei Jahre für Eintracht Frankfurt spielte, der SZ am Telefon, warum ihn das Team so begeistere: wegen der mannschaftlichen Geschlossenheit und der tiefen Identifikation der Spieler mit dem Land. Stellvertretend dafür stünden Ödegaard und Haaland, die „mehr als alle anderen“ das Nationaltrikot tragen wollten, so Fjörtoft – ein „wahnsinniges Signal“ sei das für die gesamte Mannschaft. So gelingt es den Skandinaviern, als Einheit aufzutreten und dadurch so manche defensive Schwäche geschickt zu kaschieren. Besonders gelobt werden von Fjörtoft auch die intensive Jugendarbeit des norwegischen Verbandes und die taktische Handschrift von Solbakken, der entgegen der traditionell physischen Spielweise des Landes einen attraktiven Offensivstil etabliert hat, der den Stärken des Kaders entgegenkommt.
Als Wendepunkt für Norwegens Fußball sieht Fjörtoft, 58, den Wechsel des damals erst 16 Jahre alten Ödegaard zu Real Madrid 2015. Auch wenn er sich als Teenager bei Real nicht durchsetzen konnte, habe dies anderen Talenten gezeigt, dass „Ballkünstler auch aus Norwegen kommen können und das nichts mit der Nation zu tun hat“, sagt Fjörtoft. Die WM-Teilnahme markiert nun den Höhepunkt dieser Entwicklung. Die Euphorie im Stadion nahm der heutige TV-Experte als „grenzenlos“ wahr, die Mannschaft sei sogar „zwei Ehrenrunden“ gelaufen, erzählt Fjörtoft – ein Gefühl, das bei ihm „Erinnerungen an die Neunzigerjahre“ wecke.
Die Wintersportnation Norwegen, die zuletzt in der Leichtathletik, im Tennis und im Golf Erfolge feierte und im Frauenfußball ohnehin zur Weltspitze zählt, meldet sich nun also auch im Männerfußball zurück. „Wir sind wieder da!“, ruft Fjörtoft in den Lautsprecher – auch wenn der WM-Pokal für die hartnäckigen Wikinger noch viele Seemeilen entfernt ist.
