
SZ: Bislang dachte man, dass die Wissenschaft am besten in einer Demokratie gedeiht. Widerlegt China diese Annahme?
Anna Lisa Ahlers: Es hat gezeigt, dass es anscheinend bis zu einem gewissen Grad auch anders geht. Ja, das bereitet einem Kopfzerbrechen, weil es unserer Intuition widerspricht, wonach der möglichst ungehinderte Austausch in freiheitlichen Gesellschaften die Wissenschaft am ehesten voranbringt.
Dabei waren die Startbedingungen in China nicht die besten. Die erste moderne Universität wurde erst 1895 gegründet. Während der Kulturrevolution ab 1966 lagen die Hochschulen zwölf Jahre lang brach, Professoren wurden aufs Feld oder in die Fabrik geschickt. Davon muss ein Land sich erst mal erholen.
China hat aber auch eine starke Tradition der Bildung und der Wertschätzung experimenteller Wissenschaft. Die Bürokratie im Kaiserreich schätzte Fachwissen und Technologie. Schon in der Republikzeit waren viele Mitglieder der Elite in der Welt unterwegs. Selbst unter Mao wurde geforscht, wenn auch hoch ideologisiert. Erst mit Beginn der Reform- und Öffnungspolitik unter Deng Xiaoping hat sich China allerdings wirklich von der Ideologie gelöst.

Was hat die Politik dazu gebracht?
Die Führungsspitze der Kommunistischen Partei kam zu der Erkenntnis, dass man gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung nur schafft, wenn man der Wissenschaft eine gewisse Autonomie gibt. Man begann, Universitäten und Forschungsinstitute wieder aufzubauen, anfangs noch auf recht moderatem Niveau. Im Lauf der 90er-Jahre entwickelte man den Anspruch, einige Bereiche auf internationales Niveau zu bringen. Seit 2006 und spätestens unter Xi Jinping wurde auch finanziell und strukturell massiv in die Forschung an der Weltspitze investiert.
Wieso hat das andere große kommunistische System, die frühere Sowjetunion, heute keinen großen Erfolg in der Wissenschaft?
Vermutlich ein wichtiger Grund ist, dass sich das Land nicht rechtzeitig vom ideologischen Ballast befreit hat. China hingegen hat die Naturwissenschaften als System mit universeller Geltung akzeptiert. Und es wendet nun in der Breite ganz andere Ressourcen auf.
Welche Rolle hat das Ausland für den Erfolg Chinas gespielt?
Eine entscheidende. Die Regierung hat Leute in die USA und Europa geschickt, damit sie eine Top-Ausbildung bekommen und dafür sogar in Kauf genommen, dass sie dort mit demokratischen Ideen in Kontakt kommen. Viele kamen ja auch nicht zurück nach China, auch, weil es früher an attraktiven Stellen fehlte. Mittlerweile gibt es generöse Anreizsysteme und die Rückkehrer sind die produktivsten Wissenschaftler.
Und was ist mit den demokratischen Ideen, die sie im Westen vielleicht auch schätzen gelernt haben?
Viele Wissenschaftler sehen vermutlich einiges im chinesischen politischen System kritisch, zensieren sich aber selbst aus Gründen der Jobsicherheit und Existenzsicherung. Gerade in den vergangenen Jahren hat die Überwachung zugenommen. Andere sind vielleicht sogar enttäuscht von den Versprechungen des Westens und agieren mit einer Art neuer Selbstsicherheit eher systemkonform.
Seit einiger Zeit wirbt China auch massiv um westliche Forscher.
Ja, es kommen zum einen die Senior Scientists, die sich ihren Ruhestand vergolden können. Aber vor allem die Forschenden der mittleren Karrierestufe, die Postdocs in den Naturwissenschaften, schätzen die Arbeitsbedingungen und die Top-Ausstattung.
Man hört aber auch immer wieder von rüden Rausschmissen.
Das sind dann meist die Sozialwissenschaftler, die sich irgendwo kritisch über chinesische Politik geäußert haben oder heikle Themen bearbeiten.
Es gibt dort eben doch keine wirkliche Wissenschaftsfreiheit.
Es ist komplexer. Zumindest in den naturwissenschaftlichen und technischen Fächern liegen die Unterschiede zum Westen eher darin, was man mit den Forschungsergebnissen macht. Meist werden erst die Ergebnisse zensiert oder politisch instrumentalisiert.
Entscheidet nicht die politische Führung über die Forschungsthemen?
Die Staats- und Parteiführung entscheidet nicht alles im Detail. Sie bestimmt die Schwerpunkte der Forschung und fördert diese, etwa Quantencomputer, KI oder Weltraumforschung. Aber sie versucht zugleich, ein exzellentes Wissenschaftssystem in der Breite aufzuziehen. Mathematiker oder theoretische Physiker können sich auch exotischen Themen widmen. Häufig formuliert Beijing eher vage Visionen, etwa, dass es mehr Großforschungseinrichtungen geben soll. Dann springt eine Provinzregierung ein und setzt so ein Projekt um.
Haben die Geistes- und Sozialwissenschaftler genügend Luft zum Atmen?
Es hat seinen Grund, wieso diese nicht in der gleichen Liga spielen wie die Naturwissenschaftler. Schon die Geschichtsschreibung soll vor allem die kommunistische Partei und die große Zivilisation Chinas feiern. In den Sozialwissenschaften ist der Output zwar groß und teils international sehr erfolgreich, dies aber vor allem im Bereich quantitativer Methoden oder bei Themen wie Gesundheitsversorgung. Sobald es um soziologische oder politische Analysen geht, die die Parteiführung direkt kritisieren, hört die Freiheit aber auf.
Angenommen, China wäre ein demokratischer Staat, wäre der besser oder schlechter in der Wissenschaft?
Schwer zu beantworten. Es geht ja nicht nur um das politische System, sondern auch um Entscheidungsstrukturen, Ressourcen, Bürokratie, Digitalisierung. Wichtig ist diese große Begeisterung der Bevölkerung für technische Lösungen und die große Experimentierbereitschaft. Die gäbe es unter jeder Regierung.
Könnte Deutschland etwas lernen von China?
Die Schnelligkeit der Entscheidungen und ihre Umsetzung beeindruckt. In China baut man relativ zügig eine Großanlage, bei der es in Deutschland erstmal 20 Jahre lang Diskussionen gäbe. Aber das geht eben auch nur in einem autokratischen System. Typisch ist auch die ständige Messung aller Leistung, was die Produktivität anstachelt, aber die Forschenden unter extremen Leistungsdruck setzt. Ob wir das einfach übertragen können und wollen?
Bei vielen Forschern und Wissenschaftsmanagern in Deutschland herrscht Unsicherheit, wie man mit China umgehen soll: Die ehemalige Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger warnte: „Hinter jedem chinesischen Forscher kann sich die kommunistische Partei verbergen.“ Zurecht?
Wir können beim wissenschaftlichen Umgang mit vielen großen Problemen auf die Kooperation mit China nicht verzichten. Es ist ein unverzichtbarer Standort, um etwa gute Astrophysik oder Krebsmedizin zu machen. Die Debatten über die Risiken sind berechtigt, aber man sollte sie faktenbasierter diskutieren und mehr mit Szenarien arbeiten. Wie viele Spionagefälle gibt es, und wie häufig funktioniert die Zusammenarbeit reibungslos? Welche Folgen haben bestimmte Einschränkungen in der Kooperation?
Bedenken gibt es auch gegenüber dem weltweiten Einflussgewinn Chinas in der Wissenschaft.
Der wird in Deutschland sogar noch unterschätzt. China versucht gerade jetzt, wo die USA große Lücken aufreißt, über Science Diplomacy Länder für sich zu gewinnen, in Afrika, aber auch in Südostasien. Sogar mit dem einst verfeindeten Japan sucht es die Zusammenarbeit. Es fördert stark Open Science und baut digitale Infrastruktur im globalen Süden auf. Das sind primär Programme, um politischen Einfluss zu gewinnen.
Besteht umgekehrt die Gefahr, dass China langfristig auch in der Wissenschaft autark werden will?
In der Politik und in der Wirtschaft ist die Abkopplung Chinas eine reale Gefahr, wahrscheinlich auch in der Technologie. Aber China weiß, dass man zumindest derzeit noch an der Weltspitze der Wissenschaft internationale Kooperation braucht.
