Wirtschaftswunder: 70 Jahre Anwerbeabkommen mit Italien

Die SPD klang mehr als skeptisch: Ob der Wirtschaftsminister der italienischen Regierung Zusagen über die Beschäftigung italienischer Arbeiter in der Bundesrepu­blik gemacht habe, wollte die sozialdemokratische Bundestagsfraktion in einer Großen Anfrage vom 19. Januar 1955 wissen. Und: ob die Bundesregierung diesen Schritt billige. Schließlich habe der Arbeitsminister gesagt, dass man vor 1957 gar nicht an den Einsatz von „Fremdarbeitern“ zu denken brauche.

Der angesprochene Wirtschaftsminister war der Christdemokrat Ludwig Erhard. Die Tageszeitung „Hamburger Echo“ hatte am 10. November 1954 berichtet, Erhard habe mit dem italienischen Außenminister über die Möglichkeit verhandelt, 100.000 bis 200.000 Arbeiter aus Italien anzuwerben. Die ersten Jahrgänge von Wehrpflichtigen würden zur Bundeswehr einberufen und damit dem Arbeitsmarkt entzogen. Zudem sei angesichts der nun beginnenden Rüstungsproduktion mit einem Arbeitskräftemangel zu rechnen.

Widerstände auch in der CDU/CSU

Nicht nur in der SPD und den Gewerkschaften, auch in Erhards eigener Fraktion und der Bundesregierung gab es Widerstände dagegen. Erst müsse das Reservoir deutscher Arbeitskräfte ausgeschöpft werden. Aber Erhard setzte sich durch: Vor siebzig Jahren, am 20. Dezember 1955, unterzeichneten Bundesarbeitsminister Anton Storch (CDU) und der italienische Außenminister Gaetano Martino in Rom das deutsch-italienische Anwerbeabkommen.

Es markiert den Beginn der Gastarbeiterära. Ähnliche Abkommen mit Spanien (1960), Griechenland (1960), der Türkei (1961) und anderen Staaten orientierten sich daran. Auf die gesamte Bundesrepublik bezogen, war eine Vollbeschäftigung 1955 noch nicht erreicht, das Wirtschaftswunder begann erst. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt war jedoch regional sehr unterschiedlich: In Baden-Württemberg lag die Arbeitslosenquote 1955 bei 2,2 Prozent, damit herrschte dort praktisch Vollbeschäftigung, in Schleswig-Holstein hingegen betrug sie 11,1 Prozent.

Um deutsche und italienische Wünsche unter einen Hut zu bringen, sah das Abkommen eine gemeinsame Anwerbekommission vor. Das erst in Mailand und dann in Verona ansässige Gremium sichtete die italienischen Bewerbungen und teilte die Arbeiter deutschen Unternehmen zu. Italien war anfangs nur bereit, ungelernte Arbeiter nach Deutschland ziehen zu lassen. Italiener, die ein Stellenangebot einer deutschen Firma hatten, konnten überdies, wie alle Ausländer, einen Sichtvermerk zur Arbeitsaufnahme in der Bundesrepublik in einem deutschen Konsulat beantragen.

Bei Lohn und Sozialem haben sich die Gewerkschaften durchgesetzt

In puncto Lohn und Sozialversicherungen hatte die Bundesregierung die Forderung der deutschen Gewerkschaften erfüllt: Die italienischen Arbeiter waren ihren deutschen Kollegen gleichgestellt. Ausländische Arbeiter sollten keine Lohndrücker sein.

Für eine Gleichbehandlung sprach aber auch, dass die Bundesrepublik mit anderen Staaten, etwa der Schweiz und Frankreich, um italienische Arbeiter konkurrierte. Nur für die Unterbringung waren keine konkreten Standards festgeschrieben. Die ersten Gastarbeiter hausten daher oft in Mannschaftsstärke in heruntergekommenen Häusern und Wohnungen, „Baracken“ genannt.

Welches Interesse Italien an dem Abkommen hatte

Das deutsch-italienische Abkommen war allerdings keineswegs nur eine arbeitsmarktpolitische Begleiterscheinung des Wirtschaftswunders. Die Initiative ging 1953 von italienischer Seite aus. Deutschland exportierte viel mehr Waren nach Italien, als es importierte. Der Lohntransfer der italienischen Arbeiter von Deutschland in ihre Heimat sollte die unausgeglichene Handelsbilanz ins Lot bringen. Außerdem versuchte die Regierung in Rom durch eine gesteuerte Emigration die Arbeitslosigkeit im Land zu verringern.

Arbeitsmigranten aus Italien waren in Deutschland nicht unbekannt: Schon im Kaiserreich waren von der Gründung bis zum Ersten Weltkrieg insgesamt mehr als eine Million Italiener beschäftigt. Das nationalsozialistische Deutschland hatte italienische Arbeiter zunächst im großen Stil angeworben. Nach Italiens Waffenstillstand mit den Alliierten im Sommer 1943 wurden dann mehrere Hunderttausend Italiener als Zwangsarbeiter nach Deutschland deportiert. An Erfahrungen mit der freiwilligen Anwerbung im Dritten Reich knüpfte sowohl die italienische als auch deutsche Seite während der Verhandlungen an.

Auch diese Vorgeschichte war charakteristisch für die deutsche Migrationspolitik: Alle folgenden Abkommen zur Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte gingen ebenfalls auf die Initiative der Entsendestaaten zurück. Die Bundesregierung reagierte auf die italienischen Wünsche zögerlich. Sie strebte nur ein präventives Abkommen an, das wirksam werden sollte, falls ein Arbeitskräftemangel eintritt.

Anfangs glaubte man noch an eine kurzfristige Maßnahme

Erst als Arbeitsmarktprognosen 1955 genau das vorhersagten, setzte sich Erhard für eine rasche Massenanwerbung ein. Die Bundesregierung hob zunächst hervor, dass es sich nur um eine kurzfristige Maßnahme handele und die Italiener bald wieder in ihre Heimat zurückkehren würden. Erst im Jahr 1959 sprach Erhard davon, dass sie in einigen Branchen wohl längerfristig beschäftigt bleiben müssten.

Zunächst kamen deutlich weniger Italiener nach Deutschland als erwartet, 1957 waren es weniger als 10.000, vor allem Saisonarbeiter für die Landwirtschaft.

Danach nahm die Zahl deutlich zu. Vor allem in der Bauwirtschaft sowie der Metall- und Textilindustrie herrschte Bedarf. Insgesamt kamen in den folgenden Jahrzehnten etwa vier Millionen Italiener zum Arbeiten nach Deutschland, erst in der Regel nur Männer, dann auch Familien. Bis 1970 stellten sie die größte Gruppe unter den Gastarbeitern. Die meisten von ihnen kehrten wieder in ihre Heimat zurück. Im Jahr 2024 lebten nach Angaben des Statistischen Bundesamtes hierzulande 650.000 „Menschen mit italienischer Einwanderungsgeschichte“. Davon sind 67.000 ehemalige Arbeitsmigranten, die zwischen 1955 und 1973 eingewandert sind.