Wirtschaftskrise: Gerhard Schröder ist kein Vorbild

Immer, wenn es in Deutschland schlecht läuft, schlägt jemand eine Agenda vor. Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche hat sich jetzt für eine „Agenda 2030“ ausgesprochen, die den Standort fit machen soll für den internationalen Wettbewerb im 21. Jahrhundert. Das ist eine Anspielung auf die Agenda 2010 von Gerhard Schröder, der auf den Einbruch der Wirtschaft nach der Jahrtausendwende mit Reformen im Sozialwesen und am Arbeitsmarkt reagierte. Doch Schröders Reformen mögen die richtige Antwort auf die Herausforderungen seiner Zeit gewesen sein: Heute hat das Land andere Probleme. 

Gerhard Schröders Agenda war in ihrem Kern ein Kostensenkungsprogramm. In den 1990er-Jahren hatte Deutschland infolge des Wiedervereinigungsbooms und steigender Löhne international an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Schröder lockerte den Kündigungsschutz, senkte die Steuern und kürzte die Arbeitslosenunterstützung. Den Rest erledigte der Weltmarkt, dessen Nachfrage nach Maschinen und Fahrzeugen aus Deutschland, getrieben von der rapiden Industrialisierung Chinas, schier unersättlich war. 

Der Anteil der Exporte in den chinesischen Markt an den Gesamtexporten stieg von 3,3 Prozent im Jahr 2007 auf 7,5 Prozent im Jahr 2018. Die deutsche Industrie stellte die Produkte her, die international nachgefragt wurden. Es folgte ein Aufschwung, der über zehn Jahre andauerte und in dem Deutschland zum internationalen Vorbild wurde. 

Die Situation heute ist eine völlig andere: Die Absatzmärkte der deutschen Industrie werden entweder abgeschottet (wie im Fall der USA), quersubventioniert (wie in China) oder sind von einem rasanten Strukturwandel ergriffen. Nach einer Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft gaben Industriefirmen an, dass die chinesischen Wettbewerber ihre Waren zu Preisen anbieten, die „um mehr als 30 Prozent unter den eigenen“ liegen. Ein solcher Kostenvorteil lässt sich durch eine effizientere Produktionsweise nur schwer erklären. Entscheidend ist aber: Auch durch eine noch so ambitionierte Reformpolitik lässt sich dieser Kostenvorteil nicht wettmachen. Entsprechend brachen die Ausfuhren nach China in der ersten Hälfte dieses Jahres stark ein

Wachstum löst viele Probleme

Die Frage ist mit anderen Worten, ob das deutsche Geschäftsmodell noch funktioniert, wenn sich mit dem Verkauf von Fahrzeugen und Maschinen auf den Weltmärkten nicht mehr genug Geld verdienen lässt. Der angemessene Vergleich wäre mithin möglicherweise nicht das Deutschland der Jahrtausendwende mit Massenarbeitslosigkeit und hohen Lohnkosten, sondern die Situation in Finnland nach dem Ende des Nokia-Booms. Das Unternehmen war damals der größte Handyproduzent der Welt und trug rund vier Prozent zum Bruttoinlandsprodukt des Landes bei. Mit dem Aufstieg der Smartphones verlor Nokia rapide Marktanteile und die finnische Wirtschaft stürzte in eine Krise. Die deutsche Autoindustrie ist womöglich heute in der Situation, in der Nokia damals war. 

Das bedeutet nicht, dass Reformen überflüssig wären, im Gegenteil: Eine bessere Infrastruktur würde der Wirtschaft genauso helfen wie weniger Bürokratie und mehr Fachkräfte. Aber man kann sich aus einer Strukturkrise nicht einfach heraussparen. Es käme vielmehr darauf an, die Suche nach neuen Märkten und Produkten staatlich zu begleiten – durch Förderprogramme für die Unternehmen, aber auch durch eine angemessene soziale Absicherung der Arbeitnehmer. Innovation lässt sich nicht staatlich verordnen, aber auch nicht mit der Kettensäge erzwingen. 

Denn auch das ist eine Lehre aus den Schröder-Jahren: Wachstum löst nicht alle Probleme, aber viele. Die Defizite bei der Rente, in der Arbeitslosenversicherung oder bei den Krankenkassen lassen sich auch darauf zurückführen, dass wegen der schwachen Wirtschaft die Einnahmen zurückgehen und die Ausgaben steigen. Wenn die Konjunktur anzieht, dann entspannt sich die Situation zumindest teilweise von selbst wieder. 

Unter Gerhard Schröder hat sich Deutschland als Exportmacht neu erfunden, das war schwer genug. Unter Friedrich Merz muss sich das Land als Innovationsmacht neu erfinden. Das ist – so viel Ehrlichkeit muss sein – unendlich schwerer.  Und es ist gut möglich, dass es nicht Monate, sondern Jahre dauern wird. Umso wichtiger wäre es, sich nicht durch falsche Vergleiche vom Weg abzubringen.