„Wir sind beim Skispringen, nicht beim Eiskunstlaufen“

Ein stilistisch reiner Skisprung lebt von der Katapultwirkung eines famosen Absprungs, die Wucht des Abhebens muss dabei exakt an der Absprungkante nach dem Anlauf erfolgen. Der Flug geht bei idealen Windverhältnissen – es sollte möglichst von vorne wehen – weit den Hang hinunter. Erfolgt auf dem Aufsprunghang auch noch die von der Jury erwünschte Telemark-Landung, bei der ein Fuß vor den anderen gesetzt wird, spricht wenig dagegen, dass die fünf Sprungrichter die Idealnote 20 ziehen und dem Sprung damit die größtmögliche Anerkennung aussprechen.

In der Praxis kommt es allerdings äußerst selten zu dieser Konstellation, äußere Einflüsse verhindern oft einen idealen Flug, hinzu kommen technische Fehler beim Absprung oder der Landung. In der neuen Saison, die am kommenden Samstag mit dem ersten Weltcup-Springen in Lillehammer beginnt, schauen die fünf Sprungrichter vor ihrer Notengebung allerdings noch genauer hin als bisher. Denn es gibt in diesem Winter eine neue Regel: Ein Skispringer, der bei der Landung keinen Telemark zeigt, wird mit drei Punkten Abzug bestraft. Und nicht mehr mit nur zwei Zählern wie bisher.

„Die Regel nervt mich einfach. Dass du so sehr bestraft wirst, finde ich total bescheuert“

Es gibt fünf Punktrichter, das beste und das schlechteste Urteil werden abgezogen, so dass die Wertung von drei Juroren das Sprungrichter-Ergebnis bilden. Es drohen also gleich neun Punkte Abzug, wenn die gewünschte Beinstellung bei der Landung fehlt. Da hilft bisweilen auch eine große Weite nicht, ein Sieger muss ein kompletter Springer und Landeexperte sein.

Bei zwei deutschen Skispringern sorgte die neue Regel gleich für große Empörung. Der sechsmalige Weltmeister Markus Eisenbichler, ein temperamentvoller Bayer, polterte im Gespräch geradezu: „Die Regel nervt mich einfach, weil die Kampfrichter mehr Einfluss erhalten“, sagte er. „Dass du so sehr bestraft wirst, wenn du nicht den Telemark setzt, finde ich total bescheuert.“ Inzwischen sei es so, dass die Sportart Skispringen nicht mehr im Vordergrund stehe, sondern „einfach nur die Regeln“. Bisher habe der Beste auch gewonnen. Nun sei es möglich, dass ein sehr weiter Sprung mit dem Abzug von eben jenen neun Punkten bestraft werde – „da kann es sein, dass du nicht auf dem Podest bist. Das ist nicht fair.“

Kritik an der neuen Telemark-Regel: Markus Eisenbichler
Kritik an der neuen Telemark-Regel: Markus EisenbichlerReuters

Auch Karl Geiger aus Oberstdorf, zuletzt einer der konstantesten Springer des Weltcups, bezeichnet die Regeländerung als fragwürdig. Die Kampfrichter würden ohnehin schon subjektiv bewerten, jetzt besäßen sie sogar noch mehr Spielraum – „ich verstehe aber nicht, warum das so ist“. Geiger hätte eher erwartet, dass die Telemark-Regel vor dieser Saison abgeschafft würde, „nun wertet man sie sogar auf“. Natürlich solle der beste Skispringer einen Wettkampf gewinnen „und die Stilistik gehört selbstredend dazu“, aber der Spielraum der Sprungrichter sei nun für seinen Geschmack zu groß: „Wir sind beim Skispringen, nicht beim Eiskunstlaufen oder beim Dressurreiten.“

Laut Geiger sollte es so sein, dass der weiteste Sprung auch zum Sieg führt. Bei großen Weiten ist es allerdings wegen des erhöhten Landedrucks oft gar nicht möglich, auch noch einen lupenreinen Telemark zu setzen. Da behelfen sich Skispringer oft spontan mit einer Notlandung mit parallelen Ski. Das dürfte in der neuen Saison nicht mehr zum Erfolg führen. Der könnte stattdessen jemandem zugesprochen werden, „der womöglich sechs Meter kürzer springt. „Aber nun gut“, sagt Geiger, „der Weltverband Fis hat es nun so gemacht. Damit müssen wir jetzt leben.“

„Das gehört beim Skispringen eben genauso dazu wie die Weite“

So gemacht hat die Anpassung der Regel der Technische Delegierte der Fis, ein Tscheche namens Ivo Greger. Im Gespräch sagt er, dass er darauf nicht aus Lust an der Qual der Weitenjäger gekommen sei, sondern weil die Coaches der Nationen nach der vergangenen Saison eine fairere Bewertung stilistisch einwandfreier Sprünge mit Telemark-Landung angemahnt hätten. Das habe auch die Fis angemahnt. Zuletzt sei es so gewesen, dass es Bewertungsmargen von 1,5 bis zwei Punkten Abzug bei angedeuteter oder gar keiner Telemark-Landung gegeben habe, die zu keinen großen Unterschieden in den Platzierungen geführt hätten. Das soll sich nun ändern. „Die Ästhetik wird nun aufgewertet. Sie gehört beim Skispringen eben genauso dazu wie die Weite“, sagt Greger.

So in etwa soll es aussehen für viele Punkte der Kampfrichter: ein Telemark bei der Landung
So in etwa soll es aussehen für viele Punkte der Kampfrichter: ein Telemark bei der Landungpicture alliance / BEAUTIFUL SPORTS

Bei den Wettkämpfen des Sommer Grand Prix habe man schon „beste Erfahrungen“ gemacht, findet Greger, die Regel gilt ja nicht nur für die Männer, sondern auch für die Frauen und die Nordischen Kombinierer. „Athleten, die keinen Telemark gezeigt haben, sind nun in der Tat etwas weiter unten im Klassement platziert“, erzählt Greger. Um sich aber ein richtiges Bild zu machen, wolle er vor allem die Landungen auf Schnee auswerten.

Nach der Saison werde es eine Evaluierung geben. Sollte die Regel nicht funktionieren, werde Greger nicht darauf beharren, dass sie im Programm bleibt: „Wir handeln nach Prinzipien der Vernunft, nicht nach solchen der Rechthaberei.“

Die Vorab-Kritik von Eisenbichler und Geiger nimmt Greger gelassen auf: „Es gibt immer Athleten, die sich bei Regeländerungen benachteiligt fühlen. Wir haben aber auch viele positive Rückmeldungen bekommen, zum Beispiel von Stefan Kraft.“ Der Österreicher gewann in der Vorsaison den Gesamt-Weltcup und ist bekannt für stilistisch hochwertige Landungen und für eine bemerkenswerte Sammlung an 20er-Noten für einzelne Flüge.

Auch Geigers und Eisenbichlers Teamkollege Andreas Wellinger, auch ein Landungsstilist, hat nichts gegen die neue Regel einzuwenden. Er sagt: „Das Schöne wird mehr honoriert, das Schlechte mehr bestraft. Das finde ich gut.“ Bundestrainer Stefan Horngacher wählt einen pragmatischen Ansatz: „Es gibt die Regel, die akzeptieren wir und dann werden wir sehen, wie sie sich auswirkt.“ Es gehe darum, Akzeptanz zu zeigen. „Alles andere hilft uns da nicht weiter.“