
Im Finale in Wimbledon am Sonntag treffen Carlos Alcaraz und Jannik Sinner aufeinander. Nur vier Wochen nach dem epischen Finale der French Open muss Sinner zeigen, dass er die große Enttäuschung in Paris verarbeitet hat. Beide Spieler demonstrieren, dass sie derzeit dem Wettbewerb enteilt sind.
Am Ende war es ein Klassenunterschied. Als Jannik Sinner seinem Gegenüber Novak Djokovic im dritten Satz zum 4:3 den Aufschlag abnahm, schimpfte der zwar noch mit seinem Anhang, doch da muss auch dem 24-maligen Grand-Slam-Sieger Djokovic aufgefallen sein, dass an diesem Tag nichts und niemand Jannik Sinner am Einzug in das Finale in Wimbledon würde aufhalten können. Nur wenige Minuten später verwandelte der Weltranglistenerste seinen vierten Matchball und zog fast beängstigend souverän ins Finale ein.
Revanche für Sinner möglich
Am Sonntag kommt es zur Revanche der French Open. Jannik Sinner und Carlos Alcaraz treffen zum 13. Mal aufeinander. Sie haben schon einige erinnernswerte Matches ausgespielt. Keines jedoch hinterließ einen derartig nachhallenden Eindruck wie die fünfeinhalb Stunden im Finale der French Open vor etwa vier Wochen.
Das Finale an der Church Road wird der ultimative Test für den Südtiroler Sinner, ob er die dramatische Niederlage in Paris hinter sich lassen konnte. Die drei vergebenen Matchbälle und der sicher geglaubte, ihm von Alcaraz entrissene Titel seien kein Thema mehr, hatte er während der Tage von Wimbledon versichert. Der Beweis wird am Sonntag erbracht.
Kreativität gegen Plan
Sinner muss sich vor allem der explodierenden Kreativität von Alcaraz stellen. Auf Sand oder Hartplatz ist dessen Spielfreude schon ansteckend. Auf Rasen wirkt sie wie die eines acht Wochen alten Hundewelpen. Das Gras in Wimbledon belohnt Kreativität. Der schnelle Untergrund, die flach abspringenden Bälle fordern die Spieler, Lösungen zu finden. Die Ballwechsel sind kürzer als im Rest der Saison.
Alcaraz scheint der Prototyp für dieses Tennis zu sein. Ähnlich wie Roger Federer in seinen besten Zeiten begreift er Tennis auch im Wettkampf als Spiel: „Es ist mein Traum, auf die Courts zu gehen, die schönsten Turniere der Welt zu spielen. Deswegen habe ich Spaß auf dem Platz.“ Sinner dagegen zieht Spielmuster vor. Jeder seiner Schläge sieht geplant aus, überraschen lässt er sich nur in den seltensten Fällen. Jedenfalls, wenn sein Gegner nicht Carlos Alcaraz heißt.
Dimitrovs Spiel ist das Vorbild für Alcaraz
Im Halbfinale gegen Djokovic war von den Schwierigkeiten Sinners aus seinem Achtelfinale gegen Grigor Dimitrov nichts mehr zu sehen. Mit der Präzision eines Chirurgen nahm er das Spiel des Serben auseinander. Das Match gegen Dimitrov ist wohl auch der beste Ansatzpunkt, um vorauszusehen, was im Finale passieren könnte. Der Bulgare hatte Sinner mit seinen Rückhand-Unterschnitt-Bällen entnervt, sein Spiel variiert.
Sinner bot sich nur selten die Möglichkeit, sein eigenes Spiel durchzuziehen, er reagierte häufig nur. Wer spielt noch variabler als Dimitrov? Carlos Alcaraz. Der Spanier blüht auf, wenn das Match aus der Schablone von Aufschlag, Return und Gewinnschlag herauskommt. Wenn es darum geht, dem Gegner Aufgaben zu stellen, selbst spielerisch Rätsel zu lösen.
Dazu kommt der Vorteil einer Siegesserie von 20 Matches auf dem Rasen in Wimbledon und 24 Siegen in Folge seit der Finalniederlage Ende April in Barcelona. Das alles spricht für Alcaraz. Die jüngsten fünf Aufeinandertreffen gewann der Spanier. Was spricht also für Sinner? Momentan nicht viel. Aber was sprach noch für Alcaraz im dritten Satz des Finales in Roland Garros?
Alcaraz und Sinner sind das Maß aller Dinge
Das Duell zwischen den derzeitigen Anführern in der Weltrangliste wird es in den nächsten Jahren wohl noch dutzendfach geben. Sie haben sich vom Wettbewerb abgesetzt. Ein desillusionierter Novak Djokovic hatte nach seiner klaren Niederlage gegen Sinner eine ähnliche Einordnung: „Die beiden sind momentan einige Level über allen anderen.“ Zum sechsten Mal in Folge wird am Sonntag der Sieger eines Grand Slams Alcaraz oder Sinner heißen. Momentan sieht es nicht danach aus, als könne sich an dieser Serie etwas ändern.
Der Italiener ist im Finale am Sonntag der Herausforderer. Alcaraz könnte sich mit seinem dritten Titel hintereinander zum neuen Hausherren im Südwesten Londons aufschwingen.Sinner freut sich auf die Herausforderung: „Ich weiß nicht, was am Sonntag passiert. Wir haben alle das letzte Finale gesehen. Ich hoffe, es wird besser als in Paris, auch wenn ich das nicht glaube.“ Ein vermessener Wunsch, auf ein besseres Match als in Paris zu hoffen.