Wikipedia ist nicht mehr aktuell und hat viele Fehler

Was ist der höchste Berg Schwedens? Wie viele Läden hat die Jeansmarke Levi’s? Und wer ist in der EU-Kommission für den Verbraucherschutz zuständig?

Wer so etwas wissen will, sucht seine Antworten oft auf Wikipedia. Das Internet-Lexikon, an dem jeder mitschreiben kann, ist mehr als 20 Jahre nach seiner Gründung eine der wichtigsten Anlaufstellen für schnelles Wissen. Wikipedia gehört zu den beliebtesten Websites Deutschlands. Auch Google zeigt oft direkt Antworten aus Wikipedia an. Und wenn Menschen an einer gerade gefundenen Information zweifeln, dann ist Wikipedia die beliebteste Website, um sie zu überprüfen – so hat es vor wenigen Wochen die Universität Oxford erfragt. So froh sind die Deutschen über das Onlinelexikon, dass sie jedes Jahr mehr Geld an das gemeinnützige Unternehmen spenden. Im vergangenen Jahr waren es rund 18 Millionen Euro. Doch das Pro­blem ist: Wikipedia hat auf viele Fragen nicht mehr die richtige Antwort, zumindest nicht auf Deutsch.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Der Bekleidungskonzern Levi Strauss habe 260 eigene Läden, so sagt es der entsprechende Eintrag. Die Zahl kam im September 2009 in den Artikel, vor mehr als 15 Jahren. Tatsächlich sind es laut aktuellem Geschäftsbericht inzwischen mehr als 1000 Läden. Die Liste der EU-Kommissare für Verbraucherpolitik bricht nach dem Jahr 2019 einfach ab, zwei EU-Kommissionen wurden schlicht ignoriert. Und auch der höchste Berg Schwedens hat sich verändert. Auf dem Südgipfel des Kebnekaise ist Eis vom Gletscher geschmolzen, 2019 ist der Titel an den Nordgipfel übergegangen – doch Wikipedias „Liste höchster Erhebungen der Staaten Europas“ hat davon nichts bemerkt.

Mehr als 1000 Wikipedia-Artikel untersucht

Und was ist eigentlich mit den Artikeln, denen der Leser ihre Aktualität nicht direkt ansieht? Die F.A.S. hat das nun systematisch untersucht. Mehr als 1000 Wikipedia-Artikel haben wir zufällig aus­gewählt. Künstliche Intelligenz hat die Texte auf Auffälligkeiten geprüft, dann hat ein Team von Dokumentaren des F.A.Z.-Archivs diese Auffälligkeiten noch einmal unter die Lupe genommen. Erst wenn zwei Menschen überzeugt waren, dass eine Information nicht mehr stimmt, haben wir sie auf die Liste genommen.

Dabei stellte sich heraus: Probleme gibt es auf mehr als jeder dritten Seite. Mindestens 20 Prozent der Seiten enthalten Informationen, die nicht mehr aktuell sind, und nur bei der Hälfte fällt es sofort auf. Dazu kommen fast noch einmal so viele Seiten mit Angaben, die noch nie gestimmt haben.

F.A.S.

Die Wikimedia-Stiftung hält die Ergebnisse nicht für dramatisch. „Da die Wikipedia eine Enzyklopädie ist und keine Nachrichtenseite, tragen die Ehrenamtlichen das Wissen nach den Kriterien einer Enzyklopädie zusammen“, teilt sie mit. Die Inhalte würden nach Relevanzkriterien ausgewählt. „Das sind beispielsweise die wesentlichen Aspekte einer Künstlerbiografie oder die zentralen Erkenntnisse zu einem wissenschaftlichen Thema, die zu dem Zeitpunkt vorliegen, an dem ein Artikel verfasst wird. Aktualität spielt dabei eine Rolle, das erste Kriterium ist jedoch die Relevanz und dann die Einhaltung weiterer Wikipedia-Regeln.“

Kommerzielle Enzyklopädien verdrängt

Die Stiftung verweist auf mehrere Untersuchungen, die Wikipedia eine gleiche oder höhere Qualität bescheinigten als kommerziellen Enzyklopädien oder Lehrbüchern. Sie stammen aus den Jahren 2004, 2007 und 2011.

Inzwischen hat Wikipedia die kommerziellen Enzyklopädien verdrängt, doch jetzt kommt die Website selbst der Lage an vielen Stellen nicht mehr hinterher. Im Artikel zum Film „2001 – Odyssee im Weltraum“ nennt Wikipedia eine falsche Produktionsgesellschaft des Filmemachers Stanley Kubrick – der mehrere besaß – und behauptet fälschlicherweise, im Erscheinungsjahr habe kein Film in Nordamerika mehr Geld eingespielt. Dabei wurde der Film erst nach einigen Jahren zum großen Hit, 1968 lagen noch andere Filme vorne. Indonesisch werde von 160 Millionen Menschen gesprochen, heißt es in einem Artikel, dabei wird Indonesisch immer wichtiger, schon längst gibt es über 200 Millionen Sprecher. Und wer sich über die Eifelstadt Mechernich informieren möchte, der erfährt, dass der Bahnbetrieb wegen der Eifelflut unterbrochen war – „in Fahrtrichtung Kall voraussichtlich bis Ende Juni 2022“.

Auf rund 8000 Seiten hat Wikipedia einen Einblocker, der darauf hinweist, dass eine Seite nicht mehr aktuell ist. Die F.A.S.-Untersuchung legt nahe: Diese Warnung müsste eher auf 600.000 Seiten gezeigt werden – und auf noch mal so vielen eine Warnung vor Fehlinformationen.

Auch die KI täuscht sich oft

Kann Künstliche Intelligenz die Internet-Enzyklopädie ersetzen? Im Moment nicht. Auch das zeigt die F.A.S.-Untersuchung: Wenn sich Wikipedia und die Künstliche Intelligenz nicht einig waren, hatte die KI auch nicht öfter recht als Wikipedia. Manchmal war es sogar so, dass KI einen Satz zu Recht bemängelte, aber selbst ebenfalls falsche Fakten angab. Deshalb war die menschliche Prüfung so wichtig.

Gleichzeitig sind die meisten KI-Modelle auch mit den Wikipedia-Artikeln trainiert. Die KI hat also sehr wahrscheinlich einige Fehler übersehen, weil sie falsche Angaben aus Wikipedia gelernt hat. Umso wichtiger wäre es, dass die Informationen in Wikipedia zumindest weitgehend stimmen. Doch was einst die große Stärke der Online-En­zy­klo­pädie war, das ist jetzt ihre große Schwäche: Jeder kann mitmachen, niemand muss. Einst hatte die deutschsprachige Wikipedia fast 11.000 Freiwillige, die regelmäßig mitarbeiteten – inzwischen stagniert ihre Zahl bei 6000.

Dagegen wächst die Zahl der Artikel immer weiter. Drei Millionen sind es schon, und täglich kommen mehrere Hundert Seiten dazu. Zudem wachsen die Aufgaben. Die Helfer müssen Wikipedia vor Quatsch-Änderungen und übermäßigem Eigenlob schützen, sie müssen Desinformation aus anderen Ländern bekämpfen und in hitzigen öffentlichen Debatten ein möglichst neu­tra­les Bild abgeben. Gleichzeitig haben sie sich vorgenommen, Wissenslücken zu stopfen, zum Beispiel bei Biographien von Frauen. Neue Artikel machen auch viel mehr Spaß. Da bleibt nicht viel Zeit für die mühsame Arbeit an den alten.

Die Aktualisierung gelingt in der Breite nicht

„Das Problem veralteter Einträge ist tatsächlich ein virulentes“, sagt Leonhard Dobusch, Professor für Organisation an der Universität Innsbruck. Er fordert schon seit Langem, dass die Wikimedia-Stiftung, die Computer und Software-Entwickler für die Wikipedia bezahlt, künftig auch Autoren einstellt – nach dem Vorbild von Rettungsorganisationen wie dem Roten Kreuz, wo hauptamtliche und ehrenamtliche Helfer gemeinsam arbeiten. Doch: „In der Wikipedia ist es bislang tabu, Menschen unmittelbar für das Editieren zu bezahlen.“ Wenn nur die Hälfte der Spenden in Redaktionsstellen fließen würde, könnte Wikipedia rund 50 hauptamtliche Redakteure beschäftigen, überschlägt Dobusch. „Damit ließe sich schon eine Menge bewegen.“

Dobusch kennt die Methode der Untersuchung der F.A.S. Sie zeige, sagt er, dass die Aktualisierung des Artikelbestands in der Breite nicht gelinge. Er verweist aber auch darauf, dass Artikel, die plötzlich aktuell interessant werden, meistens schnell verbessert werden. Das ist wahr. Andererseits entfallen nach einer F.A.S.-Analyse fast 90 Prozent aller Seitenzugriffe eben auf die 99 Prozent Artikel, die gerade nicht im öffentlichen Fokus stehen – eben weil sich jeder Nutzer gerade für etwas anderes interessiert.

Da sind viele Themengebiete verwaist. Wer sich durch die Weiten der Wikipedia-Artikel aufmacht, findet Informationen zu belgischen Autobahnen, estnischen Fußballern und taiwanischen Dörfern – offenbar oft angelegt von einzelnen Enthusiasten, die jetzt aber nicht mehr dabei sind. Da fragt mancher Wikipedianer, was besser ist: Alte Informationen zu haben oder die Seite erst gar nicht anzulegen? Und waren die alten Papier-Lexika nicht auch bald überholt?

Die allerdings suggerierten auch keine Aktualität. Die Prüfer der F.A.S. waren an dieser Stelle sehr zurückhaltend: Sie zählten Artikel selbst dann nicht als veraltet, wenn sie ganz offensichtlich von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr weiterbearbeitet wurden – etwa eine Fußballerbiographie, die im Jahr 2013 einfach abbricht. Gezählt wurden Artikel nur dann, wenn darin Sätze standen, die aus heutiger Sicht falsch sind.

Die Untersuchung zeigt außerdem: Selbst relativ populäre Seiten sind vor Fehlern nicht gefeit. In der zufälligen Auswahl waren das außer Stanley Kubricks Film „2001“ zum Beispiel der Influencer Twenty4Tim, dessen Abonnentenzahlen nicht mehr stimmten, oder der Film „Harry Potter und der Halbblutprinz“, bei dem ein längst überholter Rekord des Einspielergebnisses berichtet wird. Auch über die Insel Amrum und den Fluss Saar gab es auf Wikipedia Dinge zu lernen, die nicht mehr stimmen oder die noch nie gestimmt haben – schlicht weil in langen Artikeln auch viel Platz für alte Informationen ist, die niemand mehr bemerkt.

Was tun, wenn man Informationen sucht?

Artikel, die gerade in den Nachrichten sind, haben eine höhere Qualität, sind aber vor Fehlern auch nicht gefeit. Der amerikanische Investor Peter Thiel wird als größter Anteilseigner des KI-Unternehmens Palantir beschrieben, das allerdings sind in Wahrheit zwei Fondsgesellschaften. Über die iranische Atomanlage Fordo ist zu lesen, durch die Uran-Anreicherung sei möglicherweise der Atomwaffensperrvertrag verletzt worden. Das sei auf mehreren Ebenen falsch, entgegnet Philipp Sauter vom Max-Planck-In­sti­tut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. Gegen den Atomwaffensperrvertrag habe Iran eher verstoßen, indem er internationalen Inspektoren nicht den nötigen Zugang ermöglicht habe. Die Uran-Anreicherung wiederum sei nicht in jenem Vertrag geregelt, sondern in der Wiener Nuklearvereinbarung von 2015 – und die wiederum sei von der Regierung Trump aufgekündigt worden.

Was also tut man in Deutschland jetzt, wenn man ein Lexikon mit zuverlässigen Informationen sucht? Da bleibt der Satz, den Lehrer ihren Schülern seit der Gründung von Wikipedia immer wieder einbläuen: Wikipedia ist ein guter Ausgangspunkt für eine Recherche, aber kein gutes Ende. Wikimedia selbst sagt dazu: „Dank der eingebauten Transparenz können Wikipedia-Nutzende die Quellen prüfen, um selbst die Informationen zu bewerten oder sich anhand der Einzelnachweise noch tiefer mit einem Thema zu befassen.“ Und: „Sollten Quellenangaben fehlen oder aus Sicht einer lesenden Person ein Fehler im Artikel bestehen, können sie diese ergänzen oder korrigieren.“

Wer die Lage verbessern möchte, der kann sich das vielleicht merken: Am Geld fehlt es Wikipedia im Moment nicht so sehr wie an Leuten, die mithelfen.