Wie Skandinavien seine Bevölkerung gegen Krisen wappnet

In Schweden erhält jeder Haushalt in diesen Tagen per Post ein kleines gelbes Heftchen. Die Vorderseite ist sehr schwedisch gestaltet, im Mittelpunkt stehen starke Frauen. Eine große Soldatin mit Gewehr schützt eine Frau mit Kindern dahinter, rechts daneben ist ein kleiner männlicher Soldat zu sehen, dazu ein Kriegsschiff sowie ein Kampfflugzeug. „Wenn eine Krise oder ein Krieg kommt“, steht darunter. Auf 32 Seiten folgen Hinweise.

Etwa dazu, wie man sich im Kriegsfall oder bei Terrorangriffen verhält; welche Vorräte anzulegen sind, um für eine Woche ohne Unterstützung auszukommen; wo man Schutz findet und wie Desinformation zu erkennen ist. „Wenn Schweden angegriffen wird, werden wir uns niemals ergeben. Alle Angaben, dass der Widerstand aufhören wird, sind falsch“, steht ganz zu Beginn.

Solche Broschüren gab es in Schweden schon früher, das letzte Mal vor sechs Jahren. Die aktuelle Ausgabe ist umfangreicher geworden, die Zeiten sind schwieriger. Ein ähnliches Schreiben erhielten kürzlich die Menschen in Norwegen. Auch von der dänischen Agentur für Notfallmanagement gibt es vergleich­bare Broschüren, und in Finnland, gewissermaßen Weltmarktführer in Sachen Krisenbereitschaft, wurden kürzlich die Empfehlungen an die Bevölkerung für Krisenzeiten aktualisiert. Das zeigt: Zivilschutz wird in den nordischen Ländern ernst genommen. Dieser soll – neben dem kräftigen Ausbau der militä­rischen Fähigkeiten – einen wichtigen Beitrag zur Verteidigung leisten.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Für Schweden ist das eine Zeitenwende, die anders als in Deutschland aber pragmatisch und rasch umgesetzt wird. Dabei ähneln sich beide Länder in der Geschichte ihrer Abwehrbereitschaft. Schweden baute im Laufe des Kalten Krieges seine militärischen Fähigkeiten massiv aus und investierte viel in den Zivilschutz. Ziel war eine Verteidigungspolitik, die Militär und Bevölkerung umfasste. Gesamtverteidigung wurde das ge­nannt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schien es überflüssig, die Streitkräfte wurden zu kleinen schlagkräftigen Spezialisten umgebaut, der Wehrdienst wurde abgeschafft, der Zivilschutz vernachlässigt.

Marika Ericson ist Juristin an der Schwedischen Verteidigungshochschule in Stockholm und forscht zum Thema Krisenvorsorge. Sie sagt, in Schweden sei man seit den Neunzigerjahren davon ausgegangen, dass es keinen Krieg mehr geben werde. Das System der Gesamtverteidigung wurde fragmentiert, für den Zivilschutz waren nun vor allem die Kommunen zuständig. So ging das bis 2014, als Russland die Krim annektierte. „Dann kam die Realität zurück“, sagt sie.

Wehrdienst seit 2018

Schon damals legte Schweden den Schalter um, deutlich früher als Deutschland. Der Wehrdienst wurde schon 2018 wieder eingeführt. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs wurden die Anstrengungen noch einmal deutlich verstärkt. Es wird massiv in die Streitkräfte investiert, und auch der Zivilschutz wird wieder aufgebaut. All das braucht Zeit. Nach Angaben der zuständigen Behörde gibt es noch rund 65.000 Schutzräume für die rund 10,5 Millionen Schweden, erkennbar an einem Schild mit orangenfarbenem Qua­drat und blauem Dreieck darin. Viele wurden über die Jahre aber verbaut oder zu Fahrradkellern umgewidmet.

Ericson sagt, der Zustand der Gesamtverteidigung sei alles andere als perfekt, es gebe sehr viel zu tun. Die alten Gesetze für den Notfall wurden nie abgeschafft, darauf können die Schweden nun aufbauen. Vieles muss angepasst werden, etwa im digitalen Bereich. „Aber wir haben eine institutionelle Erinnerung, auf die wir aufbauen können“, sagt Ericson.

Im Frühjahr schreckten schwedische Politiker und Militärs die eigene Bevölkerung auf. „Es könnte Krieg in Schweden geben“, das müsse mit „ungeschminkter Klarheit“ gesagt werden, sagte der Zivilschutzminister Carl-Oskar Bohlin. Das erzeugte viel Aufmerksamkeit. Manche im Land fanden die Warnung übertrieben. Und Forscherin Ericson ist nicht sicher, ob die Politik damit wirklich alle Menschen erreicht hat.

Der Goldstandart der Krisenvorsorge

In Finnland ist das anders. Dort sorgte kürzlich eine Umfrage für Aufsehen, wonach rund vierzig Prozent der Bevölkerung zu Hause keine ausreichenden Reserven haben, um eine längere Krise zu überleben. Umgekehrt heißt das: Sechzig Prozent der Haushalte verfügen über ausreichende Vorräte. In anderen Ländern wäre man auf diese Zahl sehr stolz. Nicht aber im äußersten Nordosten Europas.

Hier hat sich die Erfahrung, während des Zweiten Weltkriegs von der Sowjetunion überfallen worden und auf sich allein gestellt zu sein, tief eingebrannt. Beim Militär hatte man damals erkannt, dass die Hilfe der Bevölkerung unbedingt notwendig war, um als kleine Nation auf sich allein gestellt im Kampf gegen den großen Nachbarn überleben zu können.

Auch nach dem Ende der Sowjetunion trauten die Finnen den Russen nicht über den Weg. Die Abwehrbereitschaft in militärischer und gesellschaftlicher Hinsicht wurde nie abgebaut. So wurden die finnischen Verhältnisse zum Goldstandard der Krisenvorsorge. Allein in Helsinki gibt es Schutzbauten für etwa 900.000 Menschen, dabei leben dort nur rund 650.000. Man denkt auch an die Pendler.

Viele der Schutzbauten sind als solche gar nicht erkennbar. Manche dienen als Sportanlagen, andere als Kirche. Die Streitkräfte sind mit rund 280.000 im Kriegsfall mobilisierbaren Soldaten groß, insgesamt gibt es knapp 900.000 Reservisten. Und die Bevölkerung ist sehr gut vorbereitet auf Krisen aller Art.

Schwedens Minister für Zivilverteidigung Carl-Oskar Bohlin stellt am 8. Oktober die neue Version eines Buches vor, das den Bürgern helfen soll, sich auf Krisen und Krieg vorzubereiten.
Schwedens Minister für Zivilverteidigung Carl-Oskar Bohlin stellt am 8. Oktober die neue Version eines Buches vor, das den Bürgern helfen soll, sich auf Krisen und Krieg vorzubereiten.AFP

Aleksi Aho arbeitet beim Euro­päischen Exzellenzzentrum zur Abwehr Hybrider Bedrohungen in Helsinki. Für ihn ist der Wehrdienst „die Grundlage für das finnische System der Gesamtverteidigung“. Aho ist Analyst im Bereich Verletzlichkeit und Resilienz. Finnland ist das einzige nordische Land, das durchgehend an einem Wehrdienst für alle Männer festhielt. Ein großer Teil der Bevölkerung ist also darin ausgebildet, mit Bedrohungen und Krisen umzugehen. Die Reservisten im Land werden regelmäßig geschult, auch viele Zivilisten besuchen Kurse beim Militär. Für Schüler, die älter als 16 Jahre sind, gibt es genauso Kurse wie für die Elite aus Politik und Wirtschaft.

Von den nordischen Nachbarn, insbesondere den weltoffenen Schweden, wurden die Finnen deswegen gern als rückwärtsgewandte Prepper-Nation verspottet. Das ist heute vorbei. Mittlerweile kommen regelmäßig Besuchergruppen, um zu lernen. Auch die EU will das nun tun.

Die EU soll finnischer werden

Finnlands früherer Präsident Sauli Niinistö stellte kürzlich im Auftrag von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einen Bericht zur Stärkung der zivilen und militärischen Vorsorge und Einsatzbereitschaft Europas fertig. Kernbotschaft: Die EU-Staaten müssen massiv in ihre Verteidigung investieren und sich besser gegen Krisen wappnen. Sprich: finnischer werden. „Vorsorge kann nur mit aktiver Beteiligung der Bürger erfolgreich sein“, heißt es in dem Bericht.

Doch selbst in Finnland gibt es Möglichkeiten zur Verbesserung. Während der Pandemie stellte man fest, dass alle Masken, die die zuständige Behörde für den Krisenfall gelagert hatte, abgelaufen waren. Und nun, da das Land ebenso wie Schweden NATO-Mitglied ist, muss es die Selbstwahrnehmung als einsame Nation im Kampf gegen Russland überdenken. Immerhin gilt im Kriegsfall die Beistandspflicht.

Gefährdet fühlen sich die nordischen Länder trotz der NATO weiterhin. Sowohl was einen möglichen militärischen Angriff durch Russland angeht, als auch durch hybride Angriffe unterhalb der Schwelle eines Krieges. Solche haben im Ostseeraum massiv zugenommen. Jüngstes Beispiel dürften die kürzlich zerstörten Datenkabel am Meeresboden sein. Der Vorfall hat in Helsinki und Stockholm kaum jemanden überrascht.