„Nein, so etwas unterschreibe ich nicht“, sagte ich meiner erstaunten Mitarbeiterin. Grund meines leicht erhöhten Blutdrucks war eine Bescheinigung, die ich ausstellen sollte. Das Anliegen der Patienten, die sich bei uns gemeldet hatten: Sie wollten von mir bestätigt bekommen, dass sie reisefähig seien für eine Kreuzfahrt.
Mir schwante Böses. Ich wollte nicht blind eine Bescheinigung unterschreiben. Zwar hatte ich die Patientenakten vor mir liegen, aber kein Bild der Personen vor Augen. Um mich vor möglichen Regressforderungen zu schützen, bat ich meine Mitarbeiterin, die junge Patientin, einen Teenager, einzubestellen.
Sie erschien mit ihrem Vater. Sie saß im Rollstuhl.
In Vorbereitung der Konsultation hatte ich mir nochmals die Akte der jungen Frau angeschaut. Sie leidet an einer extrem seltenen Erberkrankung, dem Louis-Bar-Syndrom, benannt nach der belgischen Kinderärztin Denise Louis-Bar, die dieses Krankheitsbild vor etwa 80 Jahren als Erste beschrieben hat. Etwa zwei von 100.000 Menschen weltweit erkranken.
Eigentlich haben wir Reparatur-Enzyme
Sehr vereinfacht formuliert, kommt es bei jedem von uns jeden Tag, jede Stunde und Minute zu krankhaften Veränderungen in unserer DNA. Gott sei Dank haben wir Reparatur-Enzyme, die diese Fehler fast sofort beheben können. Bei meiner jungen Patientin ist das leider nicht möglich, bei ihr ist das Reparatur-Enzym defekt. Brüche des DNA-Strangs werden daher nicht behoben, was zu vorzeitiger Alterung, Gangstörungen und neurologischen Defiziten führt.
Die durchschnittliche Lebenserwartung der Erkrankten beträgt leider nur zwischen 19 und 24 Jahre, eine Heilung ist bislang nicht möglich. Ich musste schlucken.
Da saßen nun Vater und Tochter vor mir, sie im Rollstuhl und nicht in der Lage, zu reden. Dafür sprach der Vater: „Die Reise ist eine Kreuzfahrt im Mittelmeer, das ist der größte Wunsch meiner Tochter, und den wollen wir ihr jetzt erfüllen.“ Die Tochter nickte zur Bestätigung eifrig.
Ein Wunder durch moderne Therapieverfahren?
Ich merkte auch, dass Vater und Tochter eine sehr innige Beziehung haben – und musste noch mehr schlucken.
Natürlich haben wir die Bescheinigung ausgestellt, und ich wünsche der Tochter so sehr, dass sie eine tolle Kreuzfahrt mit ihren Eltern erleben wird. Aber ich hoffe auch auf ein Wunder für das Mädchen, dass durch moderne Therapieverfahren wie zum Beispiel CRISPR (angewendet auch für den Covid-Impfstoff) eine Gentherapie entwickelt und damit vielleicht doch noch Heilung für sie erreicht werden kann.
Eine Begegnung, die vieles gerade rückt
Die Begegnung mit Vater und Tochter hat mich sehr berührt, ich denke oft daran zurück. Zum einen, weil sie mir gezeigt hat, wie dankbar ich sein kann, dass es mir trotz einiger Probleme gesundheitlich doch ziemlich gut geht und ich mein Leben so gestalten kann, wie ich es möchte.
Aber auch, weil sie mir vor Augen geführt hat, dass Glück und Zuwendung auch in sehr schwierigen Situationen möglich sind.
Aber auch andere Gefühle haben mich danach beschäftigt. Es hat mich beschämt, dass ich vor dem gemeinsamen Gespräch so misstrauisch war. Beängstigend fand ich zudem, dass ich direkt diese „Schere im Kopf“ hatte: Was darf ich aufschreiben, was darf ich verschreiben, gibt es Regress? Die Richtschnur für den Arzt muss doch das Wohl des Patienten sein, trotz aller Androhungen!
Sie sehen, liebe Leser, ich lerne jeden Tag dazu und weiß auch, wie viel ich noch lernen muss!
Ihnen eine noch sehr schöne herbstliche Woche, herzlichen Gruß aus dem Oberbergischen – Ihr Landarzt
