
Die 39 Jahre alte Frau, die am Freitagabend auf dem Hamburger Hauptbahnhof wahllos Menschen mit dem Messer angegriffen und 15 Personen zum Teil schwer verletzt hat, soll in die Psychiatrie eingewiesen werden. Dort war sie zuvor auch schon untergebracht: Nach Mitteilung des Gesundheitsministeriums in Niedersachsen wurde sie Anfang Mai in einem „hilflosen“ Zustand aufgegriffen und in die Psychiatrie gebracht. Drei Wochen lang wurde sie in einer Klinik im Landkreis Cuxhaven behandelt, bevor sie entlassen wurde – offenbar einen Tag vor der Tat. Für eine weitere Behandlung habe es keinen „medizinischen Befund“ gegeben, teilte ein Sprecher des Gesundheitsministeriums in Niedersachsen am Sonntag mit. An welcher psychischen Erkrankung die Frau leidet, wird aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes und der ärztlichen Schweigepflicht nicht mitgeteilt.
Gewalttaten im öffentlichen Raum wie das Einstechen auf Zufallsopfer in Hamburg können verschiedene Hintergründe und somit Tätergruppen haben: Der Angriff kann ideologisch, etwa islamistisch oder rechtsextremistisch, motiviert sein. Oder der Täter kann aufgrund einer narzisstischen Persönlichkeitsstruktur seinen Rachefantasien freien Lauf lassen und wahllos Menschen „büßen“ lassen – für eine von ihm so empfundene Kränkung oder Zurückweisung durch Mitschüler oder Partner.
Motive noch unbekannt
Welche Motive der Tat in Hamburg zugrunde liegen, ist noch nicht bekannt. Hinweise für ein politisches Motiv gebe es nicht, teilte die Polizei mit, jedoch deute vieles auf eine psychische Erkrankung. Aggressiv war sie offenbar schon zuvor: Sie soll im Februar auf einem Spielplatz am Hamburger Flughafen ein sechs Jahre altes Mädchen festgehalten, geschüttelt und geschlagen haben. Daraufhin wurde ihre Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik angeordnet. In der Psychiatrie ging es weiter: Anfang März soll sie eine Mitpatientin mit einem Tritt gegen den Oberschenkel verletzt haben.
In Medienberichten heißt es, die Frau leide an Schizophrenie. Sollte das zutreffen, dann wäre es eine Erkrankung, die mit einem erhöhten Risiko für Gewalttaten einhergeht. Denn Personen, die zum Beispiel unter Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis leiden, können sich wahnhaft verfolgt fühlen, wie die forensische Psychiaterin Nahlah Saimeh erläutert. „Diese Menschen entwickeln ein eigenes Bedrohungserleben: Sie stehen zum Beispiel unter dem Einfluss von Stimmen, die ihnen befehlen, ‚Verfolger‘ abzuschütteln oder im schlimmsten Fall umzubringen.“ Für Außenstehende gebe es oft kaum Anzeichen, die auf dieses „Bedrohungserleben“ hinweisen. Diese psychotischen Zustände könnten dann dazu führen, dass Erkrankte plötzlich und „aus dem Nichts heraus“ andere Menschen angreifen.
Die Risiken, die von diesen Personen ausgehen, sind laut Saimeh messbar: Das Risiko von psychotischen Personen, gewalttätig zu werden, ist im Vergleich zu Gesunden um den Faktor vier erhöht. „Und für Tötungsdelikte um den Faktor zehn.“ Bei Frauen, so Saimeh, die im Vergleich zu Männern ohnehin selten gewalttätig werden, ist bei einer Schizophrenie das Risiko für Tötungsdelikte sogar um den Faktor 23 erhöht. „Kommt noch Alkohol- oder Drogenmissbrauch dazu, die sogenannte Komorbidität, steigt das Risiko noch mal weiter an.“ Schizophrene Männer, die zudem drogen- oder alkoholabhängig sind, haben demnach ein fast dreißigfach erhöhtes Risiko, Tötungsdelikte zu begehen.
Kritisch ist der Zeitraum unmittelbar nach der Entlassung aus der Psychiatrie
Schizophrenie ist also eine schwere psychische Erkrankung, die ein deutlich erhöhtes Risiko mit sich bringt, schwere Gewalttaten zu begehen. Psychotische Personen, so Saimeh, erlebten einen Kontrollverlust: Sie nehmen eine Gefahr, eine Art äußere Macht wahr und fühlen sich von dieser Bedrohung in ihren Gefühlen und ihrem Verhalten extrem beeinflusst. Diese Symptomatik, genannt Threat Control Override, könne dazu führen, „dass sie dann andere Menschen attackieren, um sich selbst zu retten“.
Zumeist werden demnach Personen aus dem näheren Umfeld angegriffen – Nachbarn oder Angehörige, manchmal auch Pfleger. In zwölf Prozent der Fälle richte sich die Gewalt jedoch gegen unbeteiligte Zufallsopfer.
Besonders kritisch – das hebt Nahlah Saimeh hervor – ist demnach der Zeitraum unmittelbar nach einer Entlassung aus der Psychiatrie: 25 Prozent der an einer Schizophrenie leidenden Personen, die nach einer stationären Behandlung Gewalttaten begangen haben, taten dies zeitnah nach ihrer Entlassung aus der Psychiatrie. Denn ohne Kontrolle von Ärzten kann es erstmal schwierig sein, das Leben zu meistern: die Medikamente regelmäßig zu nehmen oder zu ambulanten Terminen zu erscheinen. Um Risiken realistisch einzuschätzen, sind laut Saimeh weitere „red flags“ bei diesen Patienten zu beachten: vorherige Gewalttaten oder deren Ankündigung sowie Alkohol- und Drogenmissbrauch. Auch Suizidalität könne das Risiko für Aggressionen gegen andere Menschen erhöhen: „Wer sich töten will, kann auch eine Gefahr für andere darstellen, denn die Richtung der Homizidalität kann sich ändern.“
Forderung nach stärkerem Fokus auf Gefährdungspotential der Patienten
Bei der Täterin aus Hamburg, die die Angriffe inzwischen gestanden hat, bleibt also die Frage, ob ihre Gefährlichkeit von den sie behandelnden Ärzten richtig eingeschätzt wurde. Ärzte dürfen psychisch auffällige Menschen erst dann aus der Psychiatrie entlassen, wenn sie keine „akute“ Gefahr für sich oder andere darstellen. Patienten gegen ihren Willen dazubehalten, ist mit hohen rechtlichen Hürden verbunden. Geregelt wird dies in den Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzen (PsychKG) der Bundesländer. Das Gesundheitsministerium in Niedersachsen hatte mitgeteilt, dass die Ärzte keinen Grund gesehen haben, die 39 Jahre alte Frau weiter in der Klinik zu behalten. „Eine freiwillige Weiterbehandlung war nicht angestrebt.“
Ob die Risiken richtig abgewogen wurden, werden die weiteren Ermittlungen zeigen. Zu beantworten sind somit dieselben Fragen, die sich auch nach dem Messer-Angriff im Januar in Aschaffenburg mit zwei Todesopfern stellten – unter ihnen ein zweijähriger Junge. Ebenso wie bei der Attacke in Würzburg im Sommer 2021 mit drei toten Frauen. In beiden Fällen waren die Täter – ein psychisch auffälliger Afghane sowie ein psychisch auffälliger Somalier – zuvor schon in der Psychiatrie behandelt worden. Forensische Psychiater wie Nahlah Saimeh fordern seit langem, dass auch in der Allgemeinpsychiatrie ein stärkerer Fokus auf das Gefährdungspotential der Patienten gelegt werden müsse – so wie es in der forensischen Psychiatrie die Regel ist. Dorthin kommen die Täter jedoch erst, wenn sie für eine Gewalttat verurteilt wurden. Zuvor werden psychisch auffällige Personen, die sich zum Beispiel im öffentlichen Raum aggressiv verhalten, in die Allgemeinpsychiatrie gebracht.
Nach dem Attentat von Aschaffenburg hatte die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie,
Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) Ende Januar angekündigt, Vorschläge für einen verbesserten Umgang mit psychisch kranken Menschen zu erarbeiten, die ein Gefährdungspotential entwickeln könnten. Auf Nachfrage der F.A.Z. vor drei Wochen, ob es jetzt schon Vorschläge gebe, teilte die Gesellschaft mit, dass das Papier noch in Arbeit sei. Auch eine nochmalige Anfrage am Wochenende, nach den Angriffen in Hamburg, ergab dieselbe Antwort: Das Papier ist noch nicht fertig.