Leeann Rosen entschuldigt sich, als sie das Café im Herzen Tel Avivs betritt. Sie kann nicht mit dem Rücken zum Eingang sitzen. In ihren Plateauschuhen sind ein Messer, ihr amerikanischer Pass und Geld versteckt. Es sind Dinge, die sie in der Vergangenheit nie gemacht hätte, in denen sich ihr Trauma manifestiert. „Ich vermisse mein altes Selbst“, sagt sie und kämpft mit den Tränen, als sie von ihrem Martyrium erzählt.
Am 7. Oktober 2023 war sie zum Nova-Festival nach Reim gefahren. Sie wollte in der Negev-Wüste mit der Midburn-Community feiern, in der die Fünfundvierzigjährige nach ihrer Scheidung einen neuen Freundeskreis gefunden hatte.
Als in den Morgenstunden die ersten Raketensalven durch den Himmel fliegen, sucht sie zuerst nach ihren Freundinnen. Dann stoppt die Musik, Alarm ertönt, Panik bricht aus. Rosen hört Schüsse und rennt. Sie rennt auf die umliegenden Felder, bis es ruhig wird. Sie sieht ein Paar, das sich tot stellt. Dann nähern sich die Schüsse wieder, sie sieht den Körper des jungen Mannes zucken und bluten, realisiert, dass er erschossen wurde. Sie rennt weiter, bis sie zu einem Feld mit Bäumen kommt. Erst da sagt ihr jemand, dass auch sie angeschossen wurde, und verbindet ihr mit dem T-Shirt die Wunde. Sie versteckt sich in einem Loch unter Laub und hört Schüsse und Schreie. „Erst viel später habe ich wirklich realisiert, dass um mich herum Frauen vergewaltigt und Menschen ermordet wurden“, erzählt sie.
„Die Terroristen überlebt, aber nicht die verdammte Bürokratie“
Auch Jenny Sividia, 41, und ihr Partner Lev-Ram, 45, die ebenso wie Shalev Biton, 22, über die Autobahn Richtung Norden fliehen, entkommen nur knapp dem Tod. Das Fest der „Freunde, Liebe und unendlichen Freiheit“, so der Slogan, wird am 7. Oktober zum Ort des größten Massakers in der Geschichte Israels. 364 der 1195 Opfer des Terrorüberfalls der Hamas wurden hier ermordet, 44 nach Gaza verschleppt – jeder Zehnte der etwa 4000 Besucher. Bei zwei weiteren Veranstaltungen in unmittelbarer Nähe, dem Psyduck-Festival und einer informellen Midburn-Veranstaltung, wurden Dutzende weitere Menschen ermordet.
Für die Überlebenden bleibt die Frage: Wie geht ihr Leben weiter nach einem solchen Massaker? Wenn noch immer Geiseln in Gaza sind, noch immer Krieg geführt wird?
Nach dem jüngsten Suizid der Nova-Überlebenden Shirel Golan sind die Fragen nach dem anhaltenden Trauma noch präsenter geworden. „Sie hat die Terroristen überlebt, aber nicht die verdammte Bürokratie“, klagte ihr Bruder Eyal Golan während ihrer Beerdigung Ende Oktober. Nach der siebentägigen Trauerzeit wirkt er in seinem Zuhause in Holon in dieser Woche leiser, der Tod seiner Schwester hat seine eigene posttraumatische Belastungsstörung verstärkt. Er zeigt Shirel Golans Whatsapp-Nachrichten vom 7. Oktober, beschreibt den Überlebenskampf, ihre Rettung Stunden später durch Remo Salman Al-Hozayel, einen Beduinen, der als Sicherheitsmann beim Festival mehrere Stunden lang Menschen aus einem Wadi nahe dem Festival in den Ort Pattish gerettet hat.
„Sie war ein Freigeist voller Freude, wie die Sonne, die alle um sie herum angestrahlt hat“, erzählt der Bruder. Über ein Jahr lang hat die einst lebenslustige Frau mit Depressionen gekämpft und sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Ihre Familie habe gemerkt, wie sie ihnen entglitt, und auf sie geachtet. Doch an ihrem 22. Geburtstag, als ihre Eltern und ihre vier Geschwister sich im Familienheim einfinden, schleicht sie sich fort. Ihr Partner Adi, der mit ihr auf dem Festival war, findet sie tot im Gewächshaus des Gartens.
Für den Tod seiner Schwester macht Eyal Golan auch das System verantwortlich. In Israel gibt es Hilfsangebote, aber man muss sie suchen und die bürokratischen Hürden überwinden. Und selbst dann werden in der Regel nur 36 Therapiesitzungen genehmigt – zu wenig. Er glaubt, dass gerade diejenigen, die mit selbständigen Anfragen und bürokratischen Hürden überfordert sind, am meisten Hilfe bräuchten. „Die Regierung hat doch eine Liste aller Überlebenden – warum geht sie nicht auf sie zu?“, fragt er.
Die Kinder haben ein bisschen besser „funktioniert“
Shirel Golan hat Hilfe gesucht, erst auf der Ronit-Farm, einer Noteinrichtung für Überlebende des Massakers, die in den ersten Wochen von Freiwilligen eingerichtet wurde, später durch Sozialarbeiter und in der Klinik Lev Hasharon Mental Health Center. Doch dort wurde sie nach Angaben ihres Bruders nicht gut behandelt. Er zeigt Fotos mit blauen Flecken, die sie dort erlitten haben soll. „Wenn unsere Gesellschaft die jungen Menschen, die das Nova-Festival überlebt haben, nicht zu einer verlorenen Generation verkommen lassen will, muss sie mehr in ihre mentale Gesundheit investieren“, fordert er. Auch am vergangenen Montag, als das Komitee für Arbeit und Soziales tagt, will er für seine Schwester sprechen. Während der Diskurs wie so oft lautstark in die Verantwortung über den Krieg entgleitet, fallen sich Golan und seine Eltern unter Tränen in die Arme. Sie wollen nur, dass die Überlebenden mehr Hilfe bekommen.
Shirel Golan ist die erste Überlebende der Musikfestivals, deren Selbstmord vom Gesundheitsministerium bestätigt wurde. Viele unter ihnen sind jung, viele standen unter dem Einfluss von Alkohol und Drogen, die sich unterschiedlich auf den Umgang mit dem Erlebten auswirken. Andere wiederum stehen schon mitten im Leben.
Leeann Rosen hat zwei Kinder und eine Karriere als Shiatsu-Therapeutin. Es waren ihre Kinder und ihre Arbeit, die sie zunächst gezwungen haben, zumindest ein bisschen zu „funktionieren“, sagt sie. Als ausgebildete Krankenschwester dachte sie trotz Schlafstörungen und psychosomatischer Symptome in den ersten Monaten noch, dass sie mit dem Erlebten umgehen könne. Doch als sie im Frühjahr dieses Jahres nach Monaten das erste Mal bei einem Spa-Besuch die Augen bewusst schließt, sieht sie die verdrängten Bilder vom 7. Oktober vor sich, riecht verbrannte Munition, hört Detonationen und Schüsse, die Schreie der Frauen.
Erst da entschließt sie sich zu einer Therapie. Wie viele Überlebende erzählt sie vom völligen Verlust des Selbstwertgefühls, von den Schuldgefühlen, anderen nicht geholfen zu haben, und davon, nur schwer damit umgehen zu können, dass sich die Welt einfach weiterdreht und in Israel trotz Krieg für die meisten der Alltag zurückgekehrt ist. In den ersten Monaten hat sie sich abgeschottet, konnte kaum mit anderen Menschen in Kontakt treten. Auch durch die Therapie fasst sie ganz langsam wieder Selbstvertrauen: „Ein Gespräch über meine Erlebnisse in einem Café wäre für mich noch vor sechs Monaten unvorstellbar gewesen“, sagt Rosen.
„Mein eigenes Trauma ist im Hintergrund geblieben“
Auch für Jenny Sividia, 41, hat der Prozess der Selbstheilung erst ein Jahr nach dem Erlebten angefangen. „Als Eltern waren mein Partner und ich gezwungen, morgens aufzustehen und uns um unsere Kinder zu kümmern“, so Sividia. Zudem hat sie auf dem Festival ihren jüngeren Bruder verloren und hat das letzte Jahr darum gekämpft, die Erinnerung an Shlomi Sividia am Leben zu erhalten. „Mein vorrangiges Trauma war der Verlust meines Bruders. Mein eigenes Trauma ist bis vor wenigen Wochen im Hintergrund geblieben“, sagt sie. Als Patientin macht sie ganz klassische Therapien gegen posttraumatische Belastungsstörung, wie etwa die Desensibilisierungsmethode EMDR. Als Psychologin hat sie angefangen, sich im Healing Space Rishpon um andere Überlebende des 7. Oktobers und Familienangehörige zu kümmern. „Wir erleben ein kollektives Trauma, das die gesamte israelische Gesellschaft erfasst hat“, sagt sie.
Die Erlebnisse zu teilen und anderen Menschen zu helfen würde auch ihr helfen. „Aber damit ein echter Heilungsprozess wirklich beginnen kann, muss erst mal dieser Krieg enden“, fügt ihr Partner Noam Lev-Ram, 45, hinzu. Auch wenn alles in ihrem Alltag schwerer fällt, sehen sie ihr Überleben als Chance. Neben den Therapien spricht das Paar auch auf Veranstaltungen über das Erlebte, damit andere verstehen, was sie durchgemacht haben. Sividia wünscht sich, dass Menschen ihr gelegentlich einfach so Hilfe anbieten würden. Und auch von der Welt würde sie sich mehr wünschen. Die internationale Aufmerksamkeit hat sich angesichts der humanitären Katastrophe und der Zehntausenden Toten in Gaza verlagert. Das Leid der israelischen Gesellschaft würde kaum noch wahrgenommen und anerkannt – das macht ihr zu schaffen.
Auch Shalev Biton, 22, will aus der Geschichte seines Überlebens etwas Bedeutsames machen. Biton hat nach seinem Wehrdienst eine zweijährige Weltreise gemacht und war wenige Wochen vor dem Festival nach Israel zurückgekehrt. In den ersten Monaten nach dem Massaker, erzählt er, habe er mit allem gekämpft, sich völlig verloren gefühlt. „Es ist einfach, sich nach einem solchen Trauma dem Hass hinzugeben“, sagt Biton.
Er hat die Musikreihe „We Will Dance Again“ besucht, die von den Organisatoren des Nova-Festivals für Überlebende ausgerichtet wurde, und eine Therapie begonnen. „Man muss sich erst mal wiederfinden, und das ist mit Hilfe einfacher als ganz allein“, sagt er. Zu wissen, dass andere die Erlebnisse teilen, habe ihm geholfen. Nun will er seine Stimme nutzen, um Gutes zu tun, und erinnert an die Geschichte seiner Rettung: Auf seiner Flucht hat er auf einem Bauernhof Zuflucht gefunden. Younis Alkarnawi, ein muslimischer Beduine, der den Hof verwaltet hat, hat ihn aufgenommen, ihm Wasser und Essen gegeben und sein Leben riskiert, um die Terroristen abzuwimmeln. Sein Weg ist es, in der Öffentlichkeit darüber zu sprechen.
Hatte MDMA einen schützenden Effekt?
Der Umgang mit dem Trauma des Massakers unterscheidet sich je nach Lebensumstand, das sieht die Psychologin Ayelet Cohen Vidr unter ihren Patienten. Seit dem ersten Tag nach dem 7. Oktober hat sie mehr als zwanzig Überlebende der Hamas-Massaker behandelt. Zudem beaufsichtigt sie für die gemeinnützige Organisation Safe-Heart, die sich unmittelbar nach dem Massaker gründete und seitdem über 2000 Überlebenden therapeutische Unterstützung angeboten hat, zwei Dutzend Therapeuten.
Unter ihren Patienten war ein junger Mann, der am Morgen des 7. Oktobers noch auf dem Nova-Festival tanzte und sich am Abend in Uniform auf der Militärbasis von Reim einfand. Im Chaos der ersten Tage wurden, so die Psychologin, unter den Soldaten auch Hunderte Besucher des Festivals einberufen – völlig traumatisierte junge Menschen.
Es gebe Menschen, die noch ihr ganzes Leben vor sich haben, aber auch Eltern, die mitten im Leben standen und sich um Kinder und Karriere kümmern müssen. Manche hätten sich wieder ins Leben geworfen, andere seien bis heute in Schockstarre. „Wir haben durch die Holocaustgeschichte und die vielen Kriege Erfahrung mit Traumabewältigung“, sagt Cohen Vidr. Aber der 7. Oktober hat die Ressourcen überlastet. Allein bei der nationalen Nothilfe-Hotline Natal seien sechsmal mehr Anrufe verzeichnet worden. Psychologen hätten gelernt, schneller zu diagnostizieren und effizienter zu therapieren. Weil es ein kollektives Trauma ist, arbeiten viele Therapeuten mit Gruppentherapien. Zudem werde zunehmend mit alternativen Therapieformen gearbeitet, etwa Reflexologie oder Hypnotherapie.
Es wird Jahre dauern, bis das Ausmaß der psychischen Auswirkungen sichtbar wird. Gerade auf Musikfestivals spielen auch Drogen und Alkohol eine Rolle. Erste Studien zeigen, dass dies Einfluss auf die psychische Resilienz und den Heilungsprozess haben könnte. Eine im Oktober veröffentlichte Studie mit 126 Teilnehmenden unter Festival-Überlebenden von Forschern des Sheba Medical Center und der Ben-Gurion-Universität legt nahe, dass Alkohol posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen und Angstzustände verstärken könnte. Eine weitere Studie mit 657 Teilnehmenden unter Mitwirkung der Universität Haifa und Safe-Heart, die derzeit noch im Begutachtungsverfahren ist, bietet weitere Erkenntnisse: Sie legt nahe, dass das Rauschgift MDMA möglicherweise einen schützenden Effekt auf die Überlebenden gehabt haben könnte. „Es ist das erste Mal, dass wir ein Massentrauma unter dem Einfluss von Drogen in diesem Ausmaß erleben“, sagt Roy Salomon, Mitbegründer von Safe-Heart und Kognitionswissenschaftler an der Universität Haifa, der die Studie mitinitiiert hat.
Die ersten Institutionen reagieren bereits darauf. In einem Pilotprojekt sollen 400 Überlebende der Musikfestivals in fünf Kliniken in Israel mit MDMA gegen posttraumatische Belastungsstörungen behandelt werden. So zeigen vielleicht die Traumata der Massaker vom 7. Oktober neue Perspektiven auf. Unter den Studienteilnehmern beobachtet Salomon, dass sich etwa die Hälfte nach einem Jahr auf dem Weg zurück ins Leben befindet – weniger als in anderen traumatischen Situationen, aber angesichts des andauernden Krieges doch beachtlich. „Dieses Trauma kann uns wachsen lassen, wenn wir uns bewusst dafür entscheiden“, sagt Noam Lev-Ram gut 13 Monate nach dem Massaker.