Wie Notfallseelsorger Menschen in Krisen helfen

Eigentlich wollte Silja Lüben nur für eine Woche ins Ahrtal, um dort nach der Flutkatastrophe im Juli 2021 als Notfallseelsorgerin Menschen zu helfen. Geblieben ist sie acht Monate, war mehr als 240 Tage im Dauereinsatz. „Ich bin da ziemlich naiv hingegangen, hatte gar keine Vorstellung, was das eigentlich bedeutet, dorthin zu fahren, und wie intensiv das sein wird“, sagt Lüben. Das erste Wochenende habe sie nur Schlamm geschippt, erinnert sie sich. Danach habe sie mit den Menschen intensive Gespräche geführt oder einfach nur zugehört. „Es war eigentlich übermenschlich, was ich da gemacht habe.“ Aber sie habe gespürt: „Ich bin am richtigen Ort zur richtigen Zeit.“

Die 49 Jahre alte Lüben ist gläubige Christin, und sich für andere Menschen zu engagieren, ist ihr nicht fremd. Dennoch hatte sie, als sie das erste Mal mit dem Ehrenamt des Notfallseelsorgers in Berührung kam, zunächst gar nicht vor, es selbst auszuüben. Damals war sie gemeinsam mit jemandem im Auto unterwegs, der eine Weste mit dem Aufdruck „Notfallseelsorge“ um seinen Fahrersitz hängen hatte. Interessiert war sie, doch zu dem Zeitpunkt hatte sie drei Jobs – eine weitere, nicht planbare Verantwortung war ihr zu viel.

Denn wann Notfallseelsorger gebraucht werden, ist nicht vorhersehbar. Sie werden etwa nach schweren Unfällen, Suiziden oder häuslichen Gewalttaten von Polizei, Notarzt oder Rettungsdiensten alarmiert, um „Erste Hilfe für die Seele“, wie Lüben es nennt, zu leisten. Sie können für Angehörige, Verursacher von Unfällen oder auch Opfer von Katastrophen wie im Ahrtal Ansprechpartner in den ersten schwierigen Stunden sein. Manchmal begleiten die Seelsorger auch Einsatzkräfte beim Überbringen von Todesnachrichten. In Frankfurt übernehmen das 32 ehrenamtliche und zwei hauptamtliche Mitarbeiter der Diakonie Frankfurt und Offenbach.

„Manchmal bin ich einfach die einzige Person, die greifbar ist“

Sieben Jahre nach der Autofahrt mit der Notfallseelsorger-Weste ist Lüben wieder mit dem Thema Notfallseelsorge in Berührung gekommen. „Und dann dachte ich: Jetzt ist der Zeitpunkt da.“ Also ließ sie sich 2019 bei der Diakonie Frankfurt und Offenbach in Notfallseelsorge schulen; im Juli 2021 absolvierte sie zusätzlich in den Niederlanden eine Ausbildung zur Katastrophenhelferin.

Mindestens zweimal im Monat soll jeder Notfallseelsorger im Team Bereitschaftsdienste übernehmen. Ein Dienst dauert 24 Stunden, Lüben leistet meistens 72, wie sie sagt. Über ihren Melder wird sie von der Rettungsleitstelle alarmiert, wenn sie gebraucht wird. Mit oft nur sehr wenigen Informationen geht es dann zum Einsatz. Keiner sei wie der andere, sagt Lüben. Einmal sei etwa nicht klar gewesen, ob die Betroffenen deutsch sprechen. Später stellte sich dann heraus, dass der Mann nur lange im Ausland gelebt hatte. Egal wer oder was sie erwarte, ihre Hauptaufgabe sei es, zu stabilisieren, die betroffene Person wieder mit ihrem sozialen Netz zu verknüpfen und „handlungsfähig“ zu machen, sagt Lüben. Dazu gehöre unter anderem, mit den Betroffenen durchzusprechen, wie es jetzt weitergehen kann, zum Beispiel zu klären, wer als Nächstes informiert werden sollte. Der erste Schritt, damit die Person wieder „festen Boden unter den Füßen kriegt“, sei dann, dass der Betroffene selbst den Anruf tätige, erklärt Lüben. Natürlich unterstützte sie ihn dabei.

„Ohne ihn wäre das  für mich nicht denkbar“:  Die Notfallseelsorgerin  Silja Lüben ist  gläubige Christin.
„Ohne ihn wäre das für mich nicht denkbar“: Die Notfallseelsorgerin Silja Lüben ist gläubige Christin.Jannis Schubert

In ihrem Repertoire sind dafür Listen mit vielen weiterführenden Adressen etwa zu Trauercafés, Krisentelefonen, psychologischen Anlaufstellen oder auch einfach nur ein Glas Wasser. Denn das könne schon dabei helfen, aus der Schockstarre zu kommen. „Dann ­merken die Menschen: Oh, ich habe doch noch Kontrolle im Leben“, erklärt Lüben.

Manchmal gehe es auch nur darum, einfach „da zu sein“. Nicht immer fällt es allen leicht, sich auf die Helferin einzulassen, wie sie sagt. „Aber manchmal bin ich einfach die einzige Person, die greifbar ist.“ Denn in Frankfurt leben mehr als 50 Prozent der Einwohner in Single-haushalten. Wenn jemand dann sogar den letzten engen Vertrauten verliere, sei das besonders dramatisch. Diese Menschen seien oft froh, wenn jemand da sei, mit dem sie die nächsten Schritte besprechen könnten, sagt Lüben. Und wenn die Person nicht mit ihr sprechen wolle, dann sei das auch in Ordnung. „Man darf den Job nicht zur Selbstverwirklichung machen“, sagt Lüben. „Ich bin ein Angebot und bin gerne für die Person da. Aber wenn ich nicht gebraucht werde, dann gehe ich genauso gern wieder nach Hause.“

„Der Einsatz ist erst beendet, wenn alle gesund aus dem Einsatz gehen“

Sie freue sich über jede Bereitschaft, in der sie keinen Einsatz habe, sagt sie. Aber das ist selten. Allein 2025 wurden die Notfallseelsorger der Diakonie Frankfurt Offenbach 223-mal gerufen. 2024 waren es 337 Einsätze, 26-mal waren die Seelsorger für Feuerwehrleute oder Sanitäter da. Denn selbst für erfahrene und gut ausgebildete Einsatzkräfte können extreme Ereignisse erschütternd sein. Auch diese Menschen unterstützt Lüben, sie ist ausgebildet für die „Stressbearbeitung nach belastenden Einsätzen“. Die Polizei hat ihren eigenen Dienst, der sich um die Beamten kümmert.

Einsatzkräfte müssten anders stabilisiert werden als Opfer oder Angehörige, sagt Lüben. Deren Beruf, etwa der eines Notarztes, sei ihr Schutzschild. Ein Mediziner arbeite sich an seinen Parametern ab, stelle seine Diagnose und funktioniere, erklärt die Seelsorgerin. Doch es gebe Situationen, in denen das nicht mehr möglich sei. So könne ein Notarzt, der außerdem Vater einer 13 Jahre alten Tochter sei, zwar ohne Probleme Leichenteile einsammeln und schwerstverletzte Menschen behandeln. Aber wenn er gerufen werde, nachdem ein 13 Jahre altes Mädchen vom Hochhaus gesprungen sei, belaste ihn das. Lüben erzählt, dass es genau so einem mit ihr befreundeten Arzt gegangen sei.

Am Einsatzort selbst führen Lüben und ihre neun Kollegen keine Seelsorgegespräche mit den Helfern. In der Regel melde sich der Gruppenleiter nach dem Einsatz entweder bei der Leitstelle oder bei den Notfallseelsorgern, wenn er merke, dass sein Team belastet sei. Meistens gebe es dann ein Gruppengespräch mit dem Team.

Dieses Angebot werde gut angenommen, sagt Lüben. Das Bild vom harten Mann, der keine Hilfe brauche, werde eher in der älteren Generation gepflegt. „Das ändert sich Gott sei Dank.“ Lüben sagt immer: „Der Einsatz ist erst beendet, wenn alle gesund aus dem Einsatz gehen.“ Und es sei wichtig, Dinge aufzuarbeiten, um langfristig gesund zu bleiben. Kürzlich habe sie nach einem schweren Verkehrsunfall ein Gruppengespräch mit einem Trupp der Berufsfeuerwehr geführt, sagt Lüben. Hinterher hätten ihr einige gestanden, dass sie zum ersten Mal über ihre Gefühle nach einem Einsatz geredet und zunächst gedacht hätten, das Gespräch sei nur „Psychokram“. „Aber dann haben sie gesagt: Das hat richtig gutgetan, und das sollten wir jetzt öfter machen.“

„Ohne Gott hätte ich das Ahrtal nicht überlebt“

Auch den Notfallseelsorgern selbst kann es helfen, wenn sie wissen, worauf sie besonders empfindlich reagieren. So können sich die Seelsorger der Diakonie, die immer zu zweit Bereitschaftsdienst haben, absprechen, wenn in einem Einsatz mit solchen „Triggern“ zu rechnen ist. Doch die wenigsten Menschen könnten sie kognitiv benennen und merkten erst, wenn sie mit der Situation konfrontiert seien, dass sie damit ein Problem hätten, erklärt Lüben. Für die Notfallseelsorger gibt es deshalb unter anderem die Möglichkeit der Supervision.

Resilienz sei fundamental für ihre Arbeit, sagt Lüben. Außerdem brauche es Empathie, eine gesunde Selbstfürsorge und die Klarheit, dass der Tod zum Leben gehöre. Nicht nur nach belastenden Einsätzen, sondern in allen Lebenslagen könne Resilienz wieder gestärkt werden. Dafür solle man Dinge tun, die guttäten, wie Sport treiben, in die Sauna gehen oder das Leben spüren, indem man tanzen geht oder „eine tolle Torte isst“. Lüben rät, auf einer Liste all das zu notieren, was Freude bereite. So müsse man sich im Notfall darüber keine Gedanken machen. Ordnung zu schaffen hilft Lüben. Manchmal sortiere sie deshalb nach einem belastenden Einsatz Fotos. So habe sie etwas Schönes zum Anschauen, bringe Struktur in etwas, habe das Gefühl, sie komme voran und sehe am Ende sofort ein Ergebnis.

Außerdem helfe der Glaube ihr bei ihrem Ehrenamt. „Ohne ihn wäre das für mich nicht denkbar.“ In der Bibel heiße es: „Lacht, freut euch mit den Lachenden und weint mit den Weinenden.“ Das sei beides möglich, ohne dabei selbst überwältigt zu werden. Dank ihres Glaubens müsse sie das Leid, dem sie begegne, nämlich nicht allein tragen, sondern könne es an Gott abgeben. „Ohne Gott hätte ich das Ahrtal nicht überlebt.“

Lüben hofft, dass sie weiterhin resilient bleibt. Sie habe die Verantwortung, ihre eigenen Grenzen zu kennen und nicht zu überschreiten. „Denn um anderen helfen zu können, ist es wichtig, dass ich selbst gesund bleibe.“