
Mit Macht beginnt Ende März 1945 der große Durchbruch der Westalliierten ins Deutsche Reich. Zwar hatten die Amerikaner schon Anfang des Monats unverhofft in Remagen am Mittelrhein eine Eisenbahnbrücke in ihre Gewalt bringen können, doch war das unwegsame Siebengebirge für einen großangelegten Vorstoß denkbar ungeeignet. Nun aber gelingt gleich an zwei Stellen der Übertritt über den deutschen Schicksalsfluss: Bei Wesel am Niederrhein und bei Nierstein und Oppenheim südlich von Mainz.
Schon am 26. März rollen US-Soldaten mit ihren Panzern ins Zentrum von Frankfurt ein, das „zu 80 bis 90 Prozent zerstört, eine Totenstadt“ ist, wie ein hochrangiger Mitarbeiter des alliierten Oberkommandos notiert. „Nach der Ausgangssperre um 19 Uhr schallen die Stiefel der GIs wie Schritte in einer Gruft … Die Leute, die im Stadtgebiet blieben, verkriechen sich in die Keller, haben vielleicht nur das Wasser, was sie in Kübeln von einer zentralen Zisterne holen, und haben kein Licht …“
Dicht hinter der Front ist auch eine kleine Crew Truppenbetreuer unterwegs. An ihrer Spitze: Marlene Dietrich. Seit Frühjahr 1944 legt sich die Schauspielerin, die 15 Jahre zuvor durch den Film „Der blaue Engel“ bekannt und kurz darauf durch ihren ersten Hollywood-Film zum Weltstar geworden war, wie niemand sonst aus dem amerikanischen Showbusiness an vorderster Front bei der Truppenbetreuung ins Zeug. Die Diva – die 1939 aus Protest gegen das Hitler-Regime ihre deutsche gegen die amerikanische Staatsbürgerschaft eingetauscht hatte, steht in Diensten der amerikanischen United Service Organizations, kurz U.S.O.
Abgekämpfte, müde und traumatisierte Soldaten aufheitern
Diese stellt sogenannte Camp Shows zusammen, um alliierte Soldaten an der Front bei Laune zu halten und in ihrem Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland moralisch zu unterstützen. Im Frühjahr 1944 war Marlene Dietrich in Nordafrika und Italien unterwegs. Seit Oktober reist sie nun wieder unermüdlich von Einheit zu Einheit, um abgekämpfte, müde und traumatisierte Soldaten aufzuheitern – zunächst in Frankreich und Belgien, und schon seit Ende November zunehmend auch in Deutschland.
Ende März erreicht Dietrichs Entertainment Crew Frankfurt, das die Amerikaner gerade zu ihrem europäischen Hauptquartier bestimmt haben. Auch im Rhein-Main Gebiet soll Marlene auftreten. Von unzähligen Frontshows Marlenes in Italien, in Frankreich oder im Raum Aachen finden sich in ihrem von der Deutschen Kinemathek in Berlin verwahrten Nachlass Fotografien. Sie zeigen die meist in ein Paillettenkleid gewandete Diva bei Auftritten in Kneipen, Scheunen oder auf der Ladefläche eines Lastwagens. Aus Frankfurt ist kein solches Bild bekannt – erst für die Tage und Wochen darauf gibt es Fotos etwa aus Aschaffenburg, Heidelberg oder Kirchheimbolanden. Dafür findet zu Marlenes Frankfurt-Aufenthalt im Nachlass von Wilhelm Hollbach ein Protokoll, in dem eine denkwürdige Begebenheit dokumentiert ist.
Hollbach ist eigentlich Journalist. Bis die Nationalsozialisten die „Frankfurter Zeitung“ 1943 verboten, war er deren Nachrichtenchef. Direkt nach der amerikanischen Besetzung der Stadt soll Hollbach um die Erlaubnis zur Gründung einer Zeitung gebeten haben. Doch die Amerikaner sind händeringend auf der Suche nach einem Bürgermeister. Und da ihnen gerade der vorgesehene Unternehmer abgesagt hat, betrauen sie kurzerhand Hollbach mit dem Posten.
„Ich bin vollständig abgebrannt mit meinen Kosmetika“
Hollbach weiß nicht, wo beginnen, um die Not der Bevölkerung zu lindern. Ein großes Problem ist, dass die Besatzer die Öffnung der Geschäfte untersagt haben, solange nicht alle Inhaber entnazifiziert sind. Da erreicht ihn ein Anruf. Die Leitung ist schlecht. „Hier ist Margrete Friedrich“, glaubt Hollbach zu verstehen. Die Frauenstimme wiederholt: „Hier spricht Marlene Dietrich, die Sie doch mindestens aus dem Blauen Engel kennen dürften. Ich bin hier im Range eines Captains in dem tätig, was man bei Ihnen Truppenbetreuung nennt.“ Sie habe eine sehr seltsame Bitte, mit der sie sich nicht an den „riesigen“ amerikanischen Oberst – es ist US-Stadtkommandant Colonel Howard D. Criswell – zu wenden wage, der neben ihr stehe, aber kein Deutsch könne.
„Ich bin vollständig abgebrannt mit meinen Kosmetika. Es fehlt mir an Gesichtswasser, -creme, -puder und so weiter.“ Bei den rauen Army-Kriegern sei Derartiges natürlich nicht aufzutreiben. „Ich bin mit meinem Wagen durch die Stadt gefahren. Auch in den Gegenden, die nicht zerstört waren, fand ich kein Geschäft.“ Zwar sei ihr klar, dass er anderes zu tun habe, als einer Frau zu ihren Kosmetika zu verhelfen, aber …
Hollbach weiß Rat. Er entsinnt sich einer Stadtangestellten, die ihm durch ein „geradezu friedensmäßiges Makeup“ aufgefallen war, und initiiert ein Treffen der beiden. Die Frau fährt mit Marlene Dietrich durch die Trümmerstadt zu ihrem Friseur, in der Hoffnung, dass der noch geheime Kosmetikvorräte hat. Doch vergebens, er ist ausgeplündert. Also geht es zum Wirtschaftsamt, wo jemand von einem Großhändler wissen will, der seine Vorräte in den nahen Taunus ausgelagert hat. Tatsächlich, sie haben Glück: Marlene Dietrich bekommt „friedensmäßige Ware“, so viel sie will. So sehr die Diva immer erwartet, dass man für sie das Unmögliche möglich macht, so überschwänglich dankbar ist sie anschließend. Und so erscheint sie am Nachmittag im Amtszimmer des Bürgermeisters, um sich zu revanchieren. „Ich bitte Sie, mir das Vergnügen zu machen, heute Abend im Parkhotel, meinem Quartier, mit mir zu essen.“
Von der Unsinnigkeit des Ladenöffnungsverbots
Doch Hollbach lehnt ab, schließlich sei die gnädige Frau ein amerikanischer Soldat. Ob sie nicht wisse, dass es ein Fraternisierungsverbot gebe. Marlene weiß das natürlich. Aber warum sollte sie das Verbot, das sie bisher nie gekümmert hat, ausgerechnet jetzt kümmern? „Lassen Sie das nur meine Sorge sein und verderben Sie mir nicht die Freude, eine Stunde mit Ihnen zu verplaudern.“ Colonel Criswell habe sie übrigens auch eingeladen. Der kleine Hinweis verfehlt seine Wirkung nicht. Nun sagt der Bürgermeister sofort zu, nicht ohne noch zu ergänzen, dass Marlene ihm einen großen Dienst erweisen könne, wenn sie den US-Stadtkommandanten „mit dem Charme und der Diplomatie einer Frau“ von der Unsinnigkeit des Ladenöffnungsverbots überzeugen würde.
Laut Hollbachs kurz nach dem denkwürdigen abendlichen Treffen angefertigtem Protokoll dauerte die Runde im Parkhotel bis Mitternacht. Marlene Dietrich habe sich als „eine kluge, verständnisvolle und warmherzige Frau“ erwiesen. Sie habe genügend deutsche Freunde, um zu wissen, dass nicht alle Deutschen Nazis seien. Zum ersten Mal habe er Stadtkommandant Criswell auseinandersetzen können, „welcher Unterschied zwischen einem kleinen Parteigenossen und einem wahren Nazi bestehe, ohne dass er mich unterbrach. Sie habe auch in anderen Städten genug Unsinn mitansehen müssen, sagte Frau Dietrich zum Oberst, unter anderem, ebenso wie hier, dass die Militär-Regierungen die Öffnung der Geschäfte nicht zuließen.“ Hollbach schreibt es Marlene Dietrichs Intervention zu, dass die Geschäfte kurz darauf tatsächlich öffnen dürfen.
Hollbach blieb nur 99 Tage im Amt. In der Chronik des Frankfurter Instituts für Stadtgeschichte heißt es, Hollbach habe den Posten „wegen kompromittierender Personalpolitik“ räumen müssen. „Er hatte ehemalige Nationalsozialisten begünstigt.“ Zeitgenossen vermuteten, Hollbach sei zu unbequem gewesen und habe Criswell zu oft kritisiert und widersprochen. Die offizielle Begründung der Amerikaner war nach einem Bericht der „Frankfurter Neuen Presse“, dass die Militärregierung es „für notwendig“ erachtet habe, „den amtierenden Bürgermeister durch einen auf verwaltungstechnischen Gebieten mehr geschulten Mann zu ersetzen“. Gleichwohl habe Hollbach Frankfurt in 99 Tagen wiederbelebt: es habe wieder Wasser und Licht gegeben, Straßenbahnen fuhren. Und am 1. Mai setzte Hollbach einen bald legendär-berühmten Tierpsychologen als Direktor des völlig zerstörten Frankfurter Zoos ein: Bernhard Grzimek.
Von unserem Autor ist soeben das Buch „Marlene Dietrich an der Front“ (Greven Verlag, Köln) erschienen.