Wie Kurzvideos unsere Zeitwahrnehmung und Kultur prägen

Es gibt Löcher, in die fällt man leicht hinein. Man ist in der Straßenbahn, der Arztpraxis oder der Supermarktschlange, greift in die Hosentasche und wird in ein Kurzvideo hineingesogen, auf dem ein KI-generiertes Baby mit gepitchter Stimme „Halleluja“ singt. Innerhalb weniger Sekunden durchläuft man eine aberwitzige Kaskade hochgradig verdichteter Clips: ein Katzenvideo, eine Anleitung zur richtigen Aufbewahrung von Parmesan, eine täuschend echte Zwiebel, die sich beim Anschnitt als Kuchen herausstellt, ein Autounfall, noch ein Katzenvideo.

Von Löchern lässt sich bei Kurzvideos insofern sprechen, als im Moment der Betrachtung das Drumherum völlig aus dem Fokus gerät und die Zeitwahrnehmung im Feuerwerk der Reize drastisch zusammenschrumpft. Das ist nützlich, wenn man die Fahrt in einer überfüllten Bahn mental überspringen will. Es kann aber auch nachteilig werden, wenn es auf Sekunden ankommt. Die Deutsche Lebensrettungs-Gesellschaft warnt Eltern regelmäßig davor, das Smartphone zu nutzen, wenn die eigenen Kinder im Wasser planschen. Über dem Video eines Basketballs, der von einer Hydraulikpresse zerquetscht wird, vergisst man leicht, dass der eigene Nachwuchs in der Urgewalt des Wassers ist.

Von Löchern lässt sich aber auch in anderer Hinsicht sprechen. Hat man 25 Minuten lang Kurzvideos geschaut, kann man hinterher nur noch einen Bruchteil von dem benennen und wiedergeben, was man in dieser Zeit gesehen hat. Bei der Fülle an verdichteten Bewegtbilderzählungen ist Überblick fast unmöglich. Nach einer Folge „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ kann man immerhin noch davon berichten, dass Yvonne sauer auf Katrin ist, weil sie ihr Jo Gerners Patientenverfügung nicht aushändigen will. Durch Kurzvideos aber wird der Alltag von Mikro-Amnesien regelrecht perforiert.

Wären es nur singende Babys, wäre das alles halb so schlimm. Aber auf den Plattformen entstehen millionenschwere Karrieren, sie heizen globale Konflikte an, die Menschen reden über sie und vor allem konsumieren sie sie ständig. Insofern drückt sich in der Rede von Löchern vielleicht die Sehnsucht danach aus, Kurzvideos aus dieser Welt aussperren zu können, sie als außerweltliches Phänomen zu begreifen, dass man nicht ernst nehmen muss. Aber so ist es nicht. Es gibt also gute Gründe, sich über dem nächsten „Is it cake?“-Video zu fragen, ob es sich bei der Klopapierrolle nicht doch um Kuchen handelt.