Die Liste von Industriekonzernen in Deutschland, die in diesem Jahr den Rotstift gezückt haben und mit aller Macht sparen wollen, ist lang: Volkswagen, Bosch, ZF, Continental, Bosch und nun auch Ford sowie der Stahlbereich von Thyssenkrupp. Im Fall von Ford Deutschland, deren Kölner Personal binnen drei Jahren um ein Viertel schrumpfen soll, warnt die IG Metall vor einem „Sterben auf Raten“, und auch bei Thyssenkrupp Steel fürchten Beschäftigte um die Zukunft ihrer Firma.
Die Beispiele bekannter Firmen verdeutlichen: Deutschlands Industrie ist im Umbruch – es geht nicht nur um eine zwischenzeitliche Nachfrageschwäche wegen der lahmenden Konjunktur, sondern um strukturelle Änderungen, darin sind sich Wissenschaftler weitgehend einig. Die Lage ist ernst, aber keineswegs hoffnungslos – so in etwa könnte man die Meinung der Expertenschar zusammenfassen.
Produktion 15 Prozent unter Vor-Corona-Niveau
Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sieht Deutschlands Industrie in einer kritischen Phase. „Wir verlieren jeden Monat in Deutschland an die 10.000 Arbeitsplätze in der Industrie, die Produktion liegt mittlerweile 15 Prozent unter dem Vor-Corona-Niveau.“
Ein Umbruch sei an sich nicht problematisch, zumal Deutschlands Industrie weiterhin großes Potenzial habe und andere Industriebereiche gute Perspektiven hätten – etwa die erneuerbaren Energien, die Wasserstoff-Industrie und die Herstellung von innovativen Ersatzprodukten für konventionelle Güter, die bislang aus Ölkomponenten gefertigt seien.
„Problematisch ist aber, dass diese innovative neue Seite der Industrie nicht richtig in die Gänge kommt – während die eher klassische Industrie Jobs abbaut, werden viel zu wenig Jobs in den neuen Bereichen aufgebaut, insgesamt ist die Jobbilanz in der Industrie tiefrot.“ Die neuen Industriebereiche müssten angekurbelt werden, damit dort mehr Jobs entstehen. „Bislang führen wir in der Industrie zu sehr einen Abwehrkampf, den wir nicht gewinnen können“, sagt Weber.
Risiko Deindustrialisierung: Ruf nach staatlichen Investitionen
Sebastian Dullien vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung hat ebenfalls Sorgenfalten. „Das Risiko einer Deindustrialisierung Deutschlands hat sich verschärft“, sagt der Konjunkturforscher. Deutschland drohe ein Schicksal ähnlich dem der USA, die seit der Jahrtausendwende massiv Industriejobs abgebaut hätten.
Während in den USA die Zahl der Industriejobs von 2000 bis 2024 von 17,7 auf 13,3 Millionen gesunken sei, habe sich die Zahl in Deutschland von 2000 bis 2019 annähernd konstant gehalten. Seit der Corona-Pandemie sei die Zahl von 7,5 auf 7,2 Millionen gesunken – diese Abwärtsentwicklung könnte sich verstärken, warnt Dullien.
Der Wissenschaftler sieht den Staat in der Pflicht: Starke Investitionen in den Bau von Straßen, Brücken und Energienetze würden dazu führen, dass Baufirmen mehr Aufträge bekommen und mehr Leute einstellten. „In anderen Industriebranchen gibt es viele Handwerker und andere Facharbeiter, die ursprünglich aus der Baubranche kommen und nun dahin zurückgehen könnten.“ Deutschland würde von solchen Investitionen auch volkswirtschaftlich profitieren, da man wettbewerbsfähiger würde.
Rolle des Fachkräftemangels
Aber angeblich herrscht doch Fachkräftemangel in Deutschland – werden die Beschäftigten, deren Jobs nun auf der Kippe stehen, nicht woanders gebraucht? „Es mag an IT-Experten und an Pflegekräften mangeln, aber das bringt den Beschäftigten nichts, die bei Autoherstellern am Band stehen und bald einen neuen Job brauchen“, sagt Dullien. Umso wichtiger sei es, dass diese Branchen Zukunftsperspektiven entwickelten und nicht einfach nur abbauten.
Paula Risius vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) wertet es als Herausforderung, Beschäftigte eines Industriekonzerns woanders unterzubringen, schließlich müsse sowohl die Art der Qualifikation als der regionale Bedarf gegeben sein. „Unternehmen müssen offen für Berufswechsler sein, aber auch die Quereinsteiger müssen in diesen Prozess investieren“, sagt die Forscherin.
Wechsler brächten nicht immer die benötigen Kompetenzen mit. „Für Arbeitgeber bedeutet es, dass Quereinsteiger möglicherweise zu Beginn für weniger Aufgaben infrage kommen oder dass sie mehr Zeit dafür benötigen als Bestands-Fachkräfte.“ Deswegen seien Lohnabstriche „nicht unwahrscheinlich“.
Lohnzuschüsse nach Jobwechsel könnten helfen
IAB-Forscher Weber sagt, dass viele Beschäftigte den Schritt weg von ihrem bisherigen Arbeitgeber, dem klassischen Industriekonzern, auch aus finanziellen Gründen scheuten – ihre alten tarifgebundenen Arbeitsplätze seien häufig besser bezahlt als Jobs in Energie-Start-ups und anderen noch jungen Unternehmen in aufstrebenden Industriebereichen.
Hierbei könnte eine „Entgeltsicherung“ helfen, sagt Weber: Der alte Arbeitgeber solle zusammen mit der Politik zeitweise einen Teil des Lohns beim neuen Arbeitgeber zahlen, sagt Weber. „Dadurch werden hohe Abfindungen vermieden und das Know-how des Beschäftigten ginge nicht verloren.“