Zwei Nächte im November haben für Berlin die ganze Welt verändert. Zu trennen sind diese Berliner Nächte nicht voneinander. Nach der einen von Dienstag auf Mittwoch weiß die Bundesregierung, dass sie es künftig wieder mit Donald Trump im Weißen Haus zu tun haben wird. In der zweiten in diesen Donnerstag hinein geht es auch darum, ob sie es sich leisten kann, ausgerechnet jetzt auseinanderzubrechen.
Am frühen Mittwochabend ist klar: der Bruch ist nicht mehr zu verhindern, die Ampel-Koalition am Ende. Olaf Scholz (SPD) steht kurz darauf zum zweiten Mal an diesem Tag vor den Mikrofonen im Kanzleramt und sagt: „Ich habe den Bundespräsident soeben um die Entlassung des Bundesministers der Finanzen gebeten.“ Er sagt: „Ich sehe mich zu diesem Schritt gezwungen, um Schaden von unserem Land abzuwenden.“ Scholz kündigt an, die Vertrauensfrage im Januar zu stellen. Neuwahlen könnten bis Ende März stattfinden. Dann trägt er eine erstaunliche Abrechnung mit seinem Finanzminister vor.
Die erste Nacht beginnt hingegen noch heiter in der Landesvertretung von Baden-Württemberg in Berlin, das amerikanische Aspen-Institut hat zur Election Night geladen. Eine Feier durch die Nacht mit Donuts, Bier und Diskussionen; Politiker, Wissenschaftler, Diplomaten, Lobbyisten. Michael Link ist in dieser Nacht eine der gefragtesten Personen. Der FDP-Politiker ist Koordinator für die transatlantische Zusammenarbeit in der Bundesregierung.
Als die Leute noch hineinströmen, sitzt er in einem Nebenraum – und wirkt ganz ruhig. Er ist vorbereitet. Die letzten Tage haben ihn viele Politiker aus der Koalition um seine Einschätzung gebeten. Er hat für Realismus plädiert, hat darauf verwiesen, wie er daran gearbeitet hat, die Beziehungen auch in die Republikanische Partei zu verbreitern. National und in den Bundesstaaten. Link weiß sogar schon genau, welchem Republikaner er bei einem Trump-Sieg die erste Gratulations-SMS schickt.
Am Morgen danach, die SMS hat Link bereits abgeschickt, sagt er: „Wir dürfen als Deutschland und Europa jetzt wegen des Comebacks Trumps nicht in Alarmismus verfallen, sondern müssen Handlungs- und Reformfähigkeit beweisen, je stärker, desto besser.“ Und wie schon bei vielen Gesprächen in der Nacht verbindet Link die Wahl in Amerika mit der Krise in Deutschland: Man müsse gerade jetzt die Wirtschaftswende schaffen und wettbewerbsfähiger werden. „Christian Lindner hat deshalb klare Vorschläge für die deutsche Wirtschaftspolitik gemacht, denn nur als starker europäischer Markt sind wir ein attraktiver Partner für die USA.“ Dafür müsse Deutschlands Wirtschaft dringend wettbewerbsfähiger werden. Es ist der Kern des Streits in der Koalition. Er wird zum Bruch führen.
Eine größere Rolle für Deutschland
Wenige Stunden nachdem Link seine Gratulations-SMS verschickt hat, steht Olaf Scholz zum ersten Mal an diesem Mittwoch im Kanzleramt vor den Mikrofonen. Mittwoch Mittag, viele Staats- und Regierungschefs weltweit haben Trump da schon zum Wahlsieg gratuliert, auch Außenministerin Annalena Baerbock, kaum war sie wieder nach ihrer Ukraine-Reise in Berlin gelandet. Nun steht Scholz vor den Mikrofonen, die Fahnen Deutschlands und Europas im Rücken, und gratuliert. „Präsident Trump wird sein Amt in einer Zeit großer Herausforderungen und Krisen antreten“, sagt er. „Bei ihrer Bewältigung kommt den Vereinigten Staaten und ihrem Präsidenten eine zentrale Rolle zu.“
Dass auch auf Deutschland eine größere Rolle zukommen dürfte in dieser Zeit, ist in Berlin schon lange kein Geheimnis mehr. Und dass Trump und seine Leute genau darauf achten dürften, wie Deutschland diese ausfüllt, ebenso wenig. Sei es bei der Hilfe für die Ukraine, bei der eigenen Verteidigung, beim Handel und dem Umgang mit China. Immer wieder tauchte bei Trump und auch seinem künftigen Vizepräsidenten J.D. Vance Deutschland als abschreckendes Beispiel auf. Sicher werde vieles unter einer von Trump geführten Regierung anders, sagt Scholz. Scholz setzt dem drei Botschaften entgegen. Erstens bleibe Deutschland „ein verlässlicher transatlantischer Partner“. Man wisse um den Beitrag, den man für diese Partnerschaft leiste und auch in Zukunft leisten werde. Er spricht die NATO an, die Bedrohung durch Russland.
Zweitens müsse die Europäische Union „eng zusammenstehen und geschlossen handeln“. Dass der Kanzler den ersten Blick dabei nach Paris richtet, wird schon dadurch deutlich, dass er vor seinem Presseauftritt mit Emmanuel Macron telefoniert hat. Scholz verweist auch auf das Treffen mit den anderen Staats- und Regierungschefs aus Europa in Budapest an diesem Donnerstag. Man werde sich dort eng abstimmen. Der dritte Punkt klingt dann schon fast flehentlich: „Von der transatlantischen Partnerschaft profitieren beide Seiten.“ Die EU und die USA seien zwei ähnlich große Wirtschaftsräume, verbunden durch die engsten wirtschaftlichen Beziehungen weltweit. Er spricht von Partnerschaft, „ja Freundschaft“. Er sagt, damit es auch jeder in Washington verstehen kann: „We are better off together!“
Dann wird Scholz noch grundsätzlicher und richtet den Blick nach innen: „Ich wünsche mir, dass wir in Deutschland zusammenbleiben“, sagt er. „Uns eint mehr, als uns trennt.“ Der Kanzler meint, dass man die politische Spaltung verhindern müsse, die man im amerikanischen Wahlkampf beobachtet habe. Man könnte es sonst auch als Appell an die eigene Koalition verstehen – vor der zweiten entscheidenden Nacht. Die beginnt um 18 Uhr im Kanzleramt, der Koalitionsausschuss, das Ampel-Aus.
Sie wollen Funken aus Trumps Wahlsieg schlagen
Längst hat die Opposition da schon den Ton gesetzt und die Nächte miteinander verbunden. Nachdem unerwartet früh feststeht, wer in Amerika gewonnen hat, dreht sich die Politik in Berlin schnell wieder nach innen. Der CDU-Politiker Johann Wadephul, stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion, hat zwar zum Gespräch über die Folgen der Wahl in Amerika eingeladen, kommt aber schnell im politischen Machtkampf an. Er finde gerade nicht, dass das jetzt der falsche Zeitpunkt sei, die Koalition zu beenden, wie der Grünenpolitiker und Wirtschaftsminister Robert Habeck das sage. Er sehe, sagt Wadephul, es genau umgekehrt. Deutschland brauche jetzt eine starke Regierung, eine Neuwahl könne die nötige Stabilität bringen.
Aber nicht nur die Opposition versucht, Funken zu schlagen auf dem Wahlsieg Trumps, um das eigene Feuer anzufachen. Selbst Baerbocks Äußerungen muss man als Verweis auf die zweite Nacht lesen. Wir Europäer „werden jetzt noch mehr sicherheitspolitische Verantwortung übernehmen müssen“, sagt sie. „Investitionen in unsere europäische Sicherheit müssen wir jetzt groß denken und groß machen.“ Das heiße auch: „Wir müssen uns von den selbst angelegten Fesseln gerade bei Investitionen in unsere Sicherheit in Deutschland und in der EU befreien.“ Da ist wieder der Konflikt um den Haushalt, um die Schuldenbremse – den sogenannten Überschreitungsbeschluss, um zum Beispiel die Hilfe für die Ukraine zu finanzieren. Als sie wenige Stunden später als Teil des Grünen-Verhandlungsteams im Kanzleramt sitzt, plädiert sie laut Teilnehmerkreisen energisch dafür, jetzt verantwortlich zu handeln. Man habe als drittgrößte Volkswirtschaft besondere Verantwortung für den Frieden in Europa.
Lindner wünscht Trump „Fortune und Weisheit“
Bundesfinanzminister Christian Lindner reiht sich am Mittwochvormittag in die Schar der deutschen Gratulanten ein und wünscht Donald Trump in einer Mitteilung „Fortune und Weisheit“. Der Abschluss seiner kurzen Stellungnahme weist dann aber auf das bevorstehende Treffen des Koalitionsausschusses und die Frage, ob und wie die Ampel weitermachen will. „In der Europäischen Union, NATO und auch Berlin müssen wir jetzt dringlicher denn je unsere wirtschafts- und sicherheitspolitischen Hausaufgaben machen.“ Was der FDP-Chef unter wirtschaftspolitischen Hausaufgaben versteht, hat er zum Verdruss vieler Sozialdemokraten und Grünen in seinem jüngsten Forderungskatalog deutlich gemacht.
In der SPD versucht man da schon, den Eindruck zu erwecken, man sei der FDP nicht vollkommen ausgeliefert, sondern habe noch andere Optionen. Überraschend klar buchstabiert das am Mittwochmittag, wenige Stunden vor Beginn des Koalitionsausschusses im Kanzleramt, die Parlamentarische Linke (PL) aus. Zu dem linken Flügel der Koalition gehört fast die Hälfte der sozialdemokratischen Abgeordneten.
In einer Minderheitsregierung sei es zwar schwer, Mehrheiten für Vorhaben zu bekommen, sagt Wiebke Esdar, eine der Sprecherinnen der PL. Wenn aber ein Partner nicht mehr mitarbeite, dann liege dieses Szenario auf dem Tisch. Und dann sei es an der Union, zu entscheiden, ob sie mit SPD und Grünen zusammenarbeiten wolle. Esdar spricht vom „Wohle des Landes“, das dann für die Union im Vordergrund stehen müsse. Wer genau zuhört, weiß spätestens jetzt: in der zweiten Nacht ist alles möglich.
Die nächste Nacht
Als es in Berlin schon wieder dunkel ist, beginnt der Koalitionsausschuss im Kanzleramt. Wie bei der Wahl in der Nacht zuvor gibt es auch dieses Mal zumindest ein Ergebnis viel schneller als erwartet: Nach nur gut zwei Stunden ist die Ampel am Ende. Lindner soll die Neuwahl des Bundestages gefordert, eine Vertrauensfrage im Parlament ins Spiel gebracht haben. Stattdessen entlässt Scholz seinen Finanzminister. Aus FDP-Kreisen wird berichtet, der Bundeskanzler habe von ihm verlangt, die Schuldenbremse auszusetzen. Lindner habe gesagt, dazu sei er nicht bereit. Es gebe andere Möglichkeiten. Die hat der Kanzler dieser Erzählung zufolge nicht gesehen. Er entlässt Lindner, und zunächst auch nur diesen. Doch das Ende der Ampel ist somit unausweichlich.
Vor der Presse hält Scholz dann wenig später eine offenbar präzise ausgefeilte Rede. Jeder Satz sitzt – und trifft vor allem Christian Lindner. „Wir brauchen eine handlungsfähige Regierung, die die Kraft hat, die nötigen Entscheidungen für unser Land zu treffen“, sagt er. Der FDP habe er „noch einmal ein umfassendes Angebot vorgelegt, mit dem wir die Lücke im Bundeshaushalt schließen können, ohne unser Land ins Chaos zu stürzen“. Bezahlbare Energiekosten hätten dazugehört, ein Paket für die Arbeitsplätze der Automobilindustrie und eine größere Unterstützung für die Ukraine. „Nach der Wahl in den USA sendet das ein ganz wichtiges Signal: Auf uns ist Verlass!“ Lindner aber habe „keinerlei Bereitschaft“ gezeigt, „dieses Angebot zum Wohle des Landes in der Bundesregierung umzusetzen“. Scholz sagt: „Ein solches Verhalten will ich unserem Land nicht länger zumuten.“ Zu oft habe Lindner sein Vertrauen gebrochen, sagt er auch.
Kurz danach tritt Lindner vor die Kameras. Er verwahrt sich gegen Scholz‘ Kritik und nennt dessen Erklärung „genau vorbereitet“; sie belege, dass es dem Bundeskanzler um den „kalkulierten Bruch der Koalition“ gegangen sei. Der Kanzler habe „leider gezeigt, dass er nicht die Kraft hat, unserem Land einen neuen Aufbruch zu ermöglichen“. Lindner sagt, Scholz habe seit Mittwochnachmittag von ihm verlangt, die Schuldenbremse auszusetzen. Dem habe er nicht zustimmen können, um seinen Amtseid nicht zu verletzen. Lindners Vorschlag eines gemeinsamen Weges zu Neuwahlen habe der Kanzler „brüsk zurückgewiesen“. Der FDP-Vorsitzende betont, dass seine Partei dafür kämpfen werde, in einer neuen Regierung Verantwortung zu tragen.
Habeck und Baerbock treten vor dem Kanzleramt vor die Kameras. Habeck sagt, dass sich das heute Abend falsch und nicht richtig anfühle. „Geradezu tragisch.“ Fraktionssitzungen werden einberufen. Es ist tiefe Nacht in Berlin, und am Morgen wird alles anders sein.