Wie es Laura Siegemund ins Wimbledon-Viertelfinale schaffte

Vor viereinhalb Wochen verlor Aryna Sabalenka die Fassung und vorübergehend auch ihre Fairness. Gefühlt habe ihre Gegnerin die Bälle ständig mit den Schlägerrahmen getroffen, trotzdem seien sie im Feld gelandet, motzte die Belarussin. Das Match habe ihre Gegnerin keineswegs gewonnen, weil sie so toll gespielt habe, sondern weil sie selbst – also Aryna – viele Bälle leichtfertig verschlagen habe, meckerte die Weltranglistenerste weiter.

Zumindest so lange, bis Laura Siegemund an diesem Dienstag (14.30 Uhr MESZ bei Prime Video) auf dem Centre Court erscheint, um auf dem heiligen Rasen eine Spur des Grauens zu hinterlassen.

„Ihre Spielweise mag ich überhaupt nicht“

Kaum hat Sabalenka den Skandal von Paris mit Mühe und Not hinter sich gebracht, droht ihr in Wimbledon neuer Schlamassel. So fürchtet die Belarussin vor dem Duell mit der gewieften Deutschen das Schlimmste: „Es wird nervig. Das Wichtigste für mich wird sein, nicht überhastet zu agieren und mich von ihrer Spielweise runterziehen zu lassen, sondern auf mich zu konzentrieren.“ Aber wie das halt so ist mit Vorsätzen …

Auch Siegemunds vorherige Gegnerinnen waren auf alles Mögliche eingestellt, ohne dass sie dem viel entgegenzusetzen wussten. „Sie hat eine Spielweise, die ich überhaupt nicht mag“, sagte Solana Sierra am Sonntag nach der 3:6, 2:6-Niederlage im Achtelfinale. „Wenn du irgendeine Form von Rhythmus suchst, wirst du sie nicht finden“, haderte Australian-Open-Siegerin Madison Keys schon vor ihrem 3:6, 3:6-Rauswurf durch Siegemund in der dritten Runde.

Kein Herz für ihre Gegnerinnen: Laura Siegemund
Kein Herz für ihre Gegnerinnen: Laura SiegemundReuters

Die einen schmollen, die anderen werden schnippisch: Im Spielerinnenkreis gibt es nicht allzu viele, die für den Vorsitz eines Laura-Siegemund-Fanklubs infrage kämen. „Ich suche nicht unbedingt Ärger“, erklärte die Deutsche, die einen Bachelor in Psychologie und nun auch ihr zweites Grand-Slam-Viertelfinale nach Paris 2020 vorweisen kann, ihr Verhalten: Sie tue alles für sich und versuche nicht, „jemanden zu stören, auch wenn es dahingehend interpretiert werden könnte“.

Was hat Laura Siegemund, vor 37 Jahren in Filderstadt geboren und mit ihrem Freund und Trainer in dessen sardinischer Heimat wohnhaft, den Kolleginnen bloß angetan, dass sie so über sie reden? Nichts, was regelwidrig wäre. Zumindest nicht viel. Dass die Schwäbin vor ihren ersten Aufschlägen nicht an Zeit spart, bringt ihr zwar gelegentlich Verwarnungen wegen Überschreiten der 25-Sekunden-Regel ein. Dass Siegemund aber auch in anderen Belangen ihr Ding durchzieht, treibt die Konkurrentinnen auf die Palme.

„Ich bin sehr konstant in meinen Verrücktheiten“

Siegemund ist eine Checkerin. Statt ihre Siege auszukosten und sich etwas Besonderes zu gönnen, setzt sie sich abends hin, schaut sich Videos ihrer kommenden Gegnerin an, erkennt die Schwächen und passt ihre sowieso schon herausfordernde Spielweise an. „Es gibt mir Ruhe und ein Stück weit Freude, alles für die nächste Aufgabe zu schnitzen“, sagte Siegemund.

Wenn es dann darauf ankommt, spielt sie gegen die eine Gegnerin viele unterschnittene Bälle und ständig Stopps, gegen die andere erwidert sie eine Weile den Druck von der Grundlinie, ehe sie schlagartig Tempo rausnimmt und Winkel, Slice, Pipapo spielt. Dadurch provoziert sie bei ihren Gegnerinnen das Schlimmste, das einem Tennisspieler widerfahren kann: Sie setzt sich im Kopf fest.

Die Folge: Die Gegnerin fängt an, sich selbst dabei zu beobachten, wie sie immer schlechter spielt. „Ich spiele nicht gegen einen Namen, sondern gegen jemanden mit einer gewissen Spielweise“, beschrieb Siegemund ihre Herangehensweise ans Viertelfinalduell mit der Weltranglistenersten Aryna Sabalenka. Zur bestmöglichen Vorbereitung gehörte für sie auch, sich jedes weitere Doppelmatch mit Beatriz Haddad Maia zu schenken. Die beiden zogen kurz vor ihrem Achtelfinale am Montag zurück.

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Wenn sie nicht anderer Leute Schwächen ausfindig macht, lese sie dieser Tage in London zur Entspannung einen Krimi, erzählte die Schwäbin. Einen anderen spannenden Schmöker scheint sie in- und auswendig zu kennen. Der Klassiker stammt vom früheren Tennisprofi und späterem Trainer Brad Gilbert, heißt „Winning ugly“ und lehrt, wie man auch ohne bessere Schläge zum Gewinner wird. Nämlich in einem dreistufigen Prozess: „Chancen erkennen. Optionen analysieren. Chancen nutzen durch Einsatz der besten Option.“

Gilbert war darin ein Könner. Noch während der Matches sammelte er Informationen, die er zu seinem Vorteil nutzen konnte, und trieb ihm überlegene Champions wie John McEnroe in die Verzweiflung. Gilberts Ko-Autor Steve Jamison schreibt am Ende seines Vorworts: „Sollte jemand kritisieren, dass Sie auf ‚hässliche‘ Weise gewinnen, sagen Sie: „,Danke. Ich habe daran gearbeitet.‘“ Bei Laura Siegemund klingt es so: „Ich bin sehr konstant in meinen Verrücktheiten.“

Es gibt auch andere Tennisprofis, die ihren Gilbert gelesen haben. Cameron Norrie ist so einer. Der Brite enervierte seinen Achtelfinalgegner Nicolas Jarry, indem er den Ball zwischen erstem und zweitem Aufschlag Dutzende Mal auf dem Boden dotzen ließ. So etwas ist ein Ärgernis, aber erlaubt, denn die Zeitbeschränkung gilt nur vor dem ersten Aufschlag. Dass Linkshänder Norrie auch noch andere Tricks draufhat, bringt seinen Viertelfinalgegner vorab ins Grübeln. „Auf ihn zu treffen ist für mich so was wie ein Albtraum“, sagte Titelverteidiger Carlos Alcaraz. Am Mittwoch geht’s für den Spanier und Sabalenka darum, die Fassung zu wahren.