Wie die AfD vom Thema Armutsmigration bei OB-Wahlen in NRW profitiert

Auf der Elberfelder Straße, in bester Lage in Hagen hat die AfD ihren großen Wahlkampfstand aufgebaut. Ganz gleich, aus welcher Richtung man in der Fußgängerzone der Großstadt am östlichen Rand des Ruhrgebiets unterwegs ist, man kommt nicht an der AfD vorbei.

Am 14. September kam sie bei der Ratswahl in Hagen auf 22,4 Prozent der Stimmen und verdrängte damit die SPD auf Platz drei. Und in der ersten Runde der Oberbürgermeisterwahl, zu der elf Kandidaten antraten, erhielt der 61 Jahre alte AfD-Politiker Michael Eiche 21,21 Prozent. Damit geht Eiche am Sonntag gegen den mit 25,08 Prozent erstplatzierten 36 Jahre alten Bankkaufmann Dennis Rehbein von der CDU in die Stichwahl.

In Duisburg und Gelsenkirchen schafften es Carsten Groß und Norbert Emmerich, die Oberbürgermeisteranwärter der Rechtsaußenpartei, in die zweite Runde. Doch dort liegen die SPD-Kandidaten Sören Link und Andrea Henze mit 46 und 37 Prozent viel klarer in Führung als CDU-Mann Rehbein in Hagen. Wird die zwischen Wuppertal und Dortmund gelegene, auch „Tor zum Sauerland“ genannte 190.000-Einwohner-Stadt am Sonntag die erste Kommune in Deutschland, die einen Oberbürgermeister mit AfD-Parteibuch bekommt? Michael Eiche lächelt. Er rechnet offenbar selbst nicht mit einem Sieg. „Die anderen haben sich ja mittlerweile gegen uns verbündet.“ Tatsächlich rufen SPD, Grüne, mehrere kleine Parteien und auch die Gewerkschaften zur Wahl Rehbeins auf.

Das scheint Eiche die Wahlkampflaune nicht zu verderben. Er und seine Parteifreunde setzen darauf, dass sich der Frust und die Unzufriedenheit in Hagen in den kommenden Jahren noch weiter ausbreiten, dass die Zeit für die AfD arbeitet. Im Ratswahlkampf reichten der Partei Slogans wie „Wähl die Lösung, nicht das Problem“ oder „Heimat im Herzen“ oder ein nicht nur für Auswärtige kaum zu enträtselndes Großplakat mit drei Dutzend Stichwörtern unter der Überschrift „10 Jahre Ratspolitik! Noch Fragen?“, um im Vergleich zur Wahl vor fünf Jahren etwas mehr als 13 Punkte zuzulegen.

Der AfD ist es gelungen, auch langjährige Nichtwähler zu aktivieren. So wie den Mann mit Baskenmütze, der gerne ausführlich darüber reden will, dass er seine Stimmzettel bisher aus Protest immer ungültig gemacht hat, seit es die AfD gebe, aber nun endlich ein Kreuz machen könne. Dass die AfD kaum Aussicht auf Mitgestaltung im Rat hat, stört ihn nicht. Im Gegenteil. „So kann sie mich anders als die anderen Parteien schon nicht enttäuschen.“

Im Westen nun auch in der Fläche verankert

Nordrhein-Westfalen war für die AfD lange schwieriges Terrain. Bei der Landtagswahl 2022 wäre sie beinahe an der Fünfprozenthürde gescheitert. Doch bei den diesjährigen Kommunalwahlen hat sie sich flächendeckend im Westen der Republik verankert.

Dass sie in Gelsenkirchen, Duisburg und Hagen nun sogar in den Oberbürgermeisterstichwahlen steht, lässt sich auch damit erklären, dass diese drei vom Strukturwandel besonders betroffenen Ruhrgebietsstädte mit einem zusätzlichen Problem konfrontiert sind: der Armutsmigration von EU-Bürgern aus Südosteuropa, die aufgrund der sogenannten Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Deutschland kommen, obwohl Arbeitsplätze für gering oder gar nicht Qualifizierte im Ruhrgebiet rar sind.

Was die Bulgaren und Rumänen – viele von ihnen Roma, die in der alten Heimat ausgegrenzt und in Armut lebten – ins Ruhrgebiet zieht, ist der billige, leer stehende Wohnraum. Den gibt es in Städten wie Gelsenkirchen und eben auch Hagen, die in den vergangenen Jahrzehnten einen erheblichen Teil ihrer Einwohner verloren haben.

Ministerpräsident Hendrik Wüst und Dennis Rehbein (beide CDU) im Gespräch mit einer Frau in Hagen
Ministerpräsident Hendrik Wüst und Dennis Rehbein (beide CDU) im Gespräch mit einer Frau in HagenReiner Burger

Oft machen sich skrupellose „Vermittler“ die Hoffnung der Menschen zunutze. Denn nicht selten ist Sozialbetrug Teil des Modells: Die Vermieter versorgen ihre Mieter, die meist weder schreiben noch lesen können, mit (Schein-)Verträgen für eine geringfügige Beschäftigung zum Mindestlohn, um es mit Bürgergeld „aufstocken“ zu lassen. De facto leben die meisten der Armutsmigranten von Sozialleistung und Schwarzarbeit.

In Gelsenkirchen gehen nur 13 Prozent der etwas mehr als 12.000 Rumänen und Bulgaren sozialversicherungspflichtiger Arbeit nach. Ähnlich ist die Quote in Duisburg und in Hagen, wo 26.000 und 7100 Rumänen und Bulgaren leben. Karin Welge (SPD), die Gelsenkirchener Oberbürgermeisterin, die nicht mehr antrat, weil ihr nach eigenen Worten die Kraft für eine weitere Amtszeit fehlt, brachte das Problem so auf den Punkt: Die Arbeitnehmerfreizügigkeit habe sich aus Gelsenkirchener Perspektive zu einer „Sozialleistungsfreizügigkeit“ entwickelt. Der soziale Frieden sei in Gefahr.

Zudem befinden sich die betroffenen Viertel in einer Abwärtsspirale. In den ohnehin schon heruntergekommenen Häusern herrschen rasch unhaltbare Zustände. Bedienstete von Ordnungs-, Bau- und Sozialamt, Feuerwehr und Ausländerbehörde, die im Kampf gegen Schrottimmobilien, Sozialmissbrauch und Schwarzarbeit unter anderem mit dem Zoll, der Polizei sowie Jobcenter-Kräften zusammenarbeiten, haben schon etliche Varianten von „absolut unbewohnbar“ gesehen: feuchte Wände, Ungezieferbefall, blanke, brandgefährliche Elektrokabel. Anwohner klagen über wilde Müllkippen und Lärm auf den Straßen bis spät in die Nacht.

Während wohlhabende Städte wie Hamburg oder München von Fachkräften aus anderen EU-Staaten profitieren, treffen die Eingesessenen in den ehemaligen Arbeitervierteln des Ruhrgebiets die negativen Folgen der Freizügigkeit.

Die AfD profitiert ohne eigene Anstrengung

In Duisburg redet Oberbürgermeister Link schon seit Jahren nicht nur Klartext, sondern geht mit einer Taskforce gegen die Folgen der Armutsmigration vor. Trotz überschaubarer Erfolge wird der Sozialdemokrat von der Mehrheit der Wähler als tatkräftig wahrgenommen. In Hagen sei das Problem dagegen von den etablierten Parteien lange kaum angesprochen worden, heißt es in der Stadt. Nun legt es sich mit Macht über den Wahlkampf. Es ist zum Sammelthema für den Frust vieler Hagener über vieles Weitere geworden – wie den Niedergang ihrer Stadt, die vielen vermüllten Ecken, das Gefühl der Unsicherheit. Die AfD profitiert ohne größere eigene Anstrengung davon.

Wenn wir so was plakatiert hätten, wären wir in der Luft zerrissen worden“, sagt AfD-Mann Eiche und zeigt auf ein Wahlplakat der FDP am Laternenpfahl neben seinem Stand. „Weniger Armutsmigration, mehr Arbeitsmotivation“, heißt es auf dem Plakat. Die AfD hielt sich für ihre Verhältnisse zurück. Vielleicht auch, weil sie damit rechnete, dass das Thema Armutsmigration ohnehin bei ihr einzahlen und bei manchen Wählern allgemeine Überfremdungsängste freilegen würde.

Dennis Rehbein (CDU) und Michael Eiche (AfD) debattieren
Dennis Rehbein (CDU) und Michael Eiche (AfD) debattierenMaximilian Mann

Ein älterer Herr, der angibt, bei der Ratswahl am 14. September die CDU angekreuzt und in der ersten Runde der Oberbürgermeisterwahl AfD-Kandidat Eiche seine Stimme gegeben zu haben, sagt, beinahe die Hälfte der Hagener habe einen Migrationshintergrund. In der Stadt lebten mittlerweile so viele Ausländer, dass von Integration keine Rede mehr sein könne. Solche Töne hört man von ­Eiche nicht. Eiche war lange Jahre Mitglied der SPD, seit mehr als vier Jahrzehnten arbeitet er in der Stadtverwaltung, aktuell im Jobcenter. Im Wahlkampf erzählt er oft davon, dass er in seiner Freizeit Chorleiter ist und leidenschaftlich gern ins Hagener Theater geht.

Anders als AfD-Kandidat Emmerich in Gelsenkirchen, der im Wahlkampf mit AfD-Chefin Alice Weidel und dem rechtsextremen Scharfmacher Stephan Brandner auftrat, verzichtete Eiche bisher auf Unterstützung durch Parteiprominenz. In Interviews mit den örtlichen Medien, bei Diskussionsrunden oder im Bürgergespräch tritt Eiche betont gemäßigt auf. „Das Problem ist nicht die Zuwanderung, das Problem ist die illegale Zuwanderung von Leuten, die sich nicht integrieren wollen“, erklärt er. In seinem Freundeskreis seien viele Ausländer oder „ehemalige Ausländer, die jetzt einen deutschen Pass haben“, sagt Eiche just, als ihn eine Frau anspricht, die sich selbst als türkischstämmige deutsche Staatsbürgerin vorstellt. Sie teile manche Position der AfD, habe aber erhebliche Bedenken, weil die Partei ja die massenhafte Remigration propagiere, sagt die Frau. Eiche erwidert, sie brauche sich keine Sorgen zu machen. „Leute, die hier keine Straftaten begangen haben, sind herzlich willkommen.“

Auch bei Ausländern ohne Wahlrecht kann die AfD punkten

Am 14. September hätten ganz viele Hagener mit Migrationshintergrund die AfD gewählt, sagt Eiche und verweist auf das Abschneiden seiner Partei bei der Wahl zum Inte­gra­tions­rat. In dem beratenden Gremium, das von Ausländern ohne Wahlrecht gewählt wird, ist die AfD in Hagen nun stärkste Kraft. In den Integrationsräten von Essen, Duisburg, Bochum, Gelsenkirchen, Herne und Bottrop kam die AfD auf Platz zwei. Das ist auch deshalb grotesk, weil die AfD vielerorts gegen diese Gremien polemisiert. Die Gelsenkirchener AfD-Chefin Enxhi Seli-Zacharias will sie abschaffen, denn es handele sich bei den Gremien, in denen es „immer nur um Moslems und ihre Sitten“ gehe, um „unnötige Steuergeldverschwendung“.

Derweil ist Tijen Ataoğlu mit CDU-Oberbürgermeisterkandidat Rehbein in der Hagener City auf Wahlkampftour. Im Februar gewann die Juristin mit türkischen Wurzeln den lange als rote Hochburg geltenden Hagener Bundestagswahlkreis. Michael Eiche, der als AfD-Direktkandidat antrat, schaffte es mit 21,4 Prozent auf Platz drei. Im Stichwahlkampf will Ataoğlu ihrem Parteifreund den Zugang zur türkischen Community erleichtern.

Das ist kein leichtes Unterfangen. Als sie vorhin mit Rehbein am Hagener Bahnhofsvorplatz unterwegs war, habe ihr ein Deutschtürke gesagt, dass er niemals auf die Idee kommen werde, die CDU zu wählen. „Er sagte: Ihr habt uns jahrzehntelang nicht die Staatsbürgerschaft geben wollen, aber viele der seit 2015 gekommenen Flüchtlinge haben sie heute schon“, berichtet die beurlaubte Richterin am Landgericht Hagen. Ein anderer Deutschtürke habe sich rundheraus als AfD-Wähler bekannt. Ihm habe sie gesagt, man sehe sich dann also am Abschiebeflieger, wenn die Partei an die Macht komme und ihre Remigrationspläne umsetze.

Marode Schulen, riesige Schuldenlast

Vergangene Woche machte Dennis Rehbein überregional Schlagzeilen, als er in der ZDF-Talkshow „Markus Lanz“ unverblümt über die Unzufriedenheit vieler Wähler in vielen Ruhrgebietskommunen und über die Folgen der Armutsmigration sprach. „Ich habe viele Rückmeldungen aus ganz Deutschland bekommen, fast alle positiv“, sagt Rehbein. Die Bürger in Hagen bewegten aber auch viele andere Themen, Verkehr etwa oder marode Schulen. Zum Hagener Sinnbild für Letzteres ist das Cuno-Berufskolleg in der Innenstadt geworden. Mehrere Räume der Bildungseinrichtung mussten ausgerechnet zum Schulstart nach den Sommerferien geschlossen werden – wegen schon seit Jahren bekannter Brandschutzmängel.

Eine große Katastrophe sei das, sagt Rehbein. „Das darf es nicht geben, das darf nicht passieren.“ 3600 Schüler, die teilweise unmittelbar vor ihren Prüfungen stehen, müssen mit Distanzunterricht zurechtkommen. Schon jetzt sei er in intensiven Gesprächen, um Ersatzräume zu finden. Rehbein verspricht keine Masterpläne, sondern pragmatische Lösungen für Hagen. Schritt für Schritt will er das Vertrauen der Bürger in das Funktionieren der Stadtverwaltung zurückgewinnen. Hagen, das unter einer Schuldenlast von einer Milliarde Euro ächzt, stehe vor so vielen „unterschiedlich gefächerten“ Herausforderungen, dass in den kommenden fünf Jahren unmöglich alle Probleme zu lösen seien. „Mein Ziel ist es, den Menschen das Gefühl zu geben, dass es in Hagen wieder bergauf geht, dass die Abwärtsspirale durchbrochen wird.“

Der Wähler in Hagen hat die Wahl: Die Bürger verfolgen gebannt den Dialog
Der Wähler in Hagen hat die Wahl: Die Bürger verfolgen gebannt den DialogMaximilian Mann

Wie schwer erschüttert das Vertrauen vieler Bürger in Hagen ist, erfährt der nordrhein-westfälische Ministerpräsident und CDU-Landesvorsitzende Hendrik Wüst, als er gemeinsam mit Rehbein rund eine Stunde lang Wahlkampf in der Fußgängerzone macht. Wüst ist der mit Abstand beliebteste und bekannteste Politiker in Nordrhein-Westfalen. Doch zwei schick gekleidete Damen lehnen es ausdrücklich ab, sich von ihm eine Blume schenken zu lassen. „Jedenfalls nicht, bevor sich etwas bei Schulen und Wirtschaft tut“, sagt die eine. „Schauen Sie doch mal die Straße runter, wie es hier aussieht. Wir wissen nicht, wen wir noch wählen sollen.“

Das anschließende Gespräch mit einer jungen Frau dreht sich um Problemimmobilien und Armutsmigration. Diese Themen sollten im Wahlkampf keine Rolle spielen, sagt sie, weil sie Ressentiments schürten, Wasser auf die Mühlen der AfD seien. Wüst widerspricht: Die demokratischen Parteien müssten alle Sorgen und Nöte der Bürger ernst nehmen und sie Stück für Stück lösen. Rehbein sei bereit, „steinige Wege“ zu gehen. Hagen werde Geld aus dem Entschuldungsprogramm von Bund und Land bekommen.

Und wie Duisburg und Gelsenkirchen werde die Stadt auch Geld für den Aufkauf und Abriss von Schrottimmobilien erhalten. Das sei ein Ansatz, um Ausbeutung von Menschen und Sozialbetrug durch Ar­muts­mi­gra­tion zu bekämpfen. „Doch Probleme, die über viele Jahre entstanden sind, lassen sich nicht mit einem Fingerschnipp über Nacht beseitigen“, sagt Ministerpräsident Wüst. Sein Parteifreund sei ein starker Kandidat, der sich auf die Unterstützung von Bund und Land verlassen könne. „In Hagen und auch in den anderen Städten, wo die AfD am Sonntag in der Stichwahl ist, steht auf dem Spiel, ob die Menschen der demokratischen Mitte am Ende vertrauen, dass sie die Probleme ihrer Kommunen lösen.“