Wie das Heimwegtelefon nachts für mehr Sicherheit sorgt

Sonntag, 22:34 Uhr. Die Straßenbahn hält. Nur ein oder zwei Menschen steigen mit mir aus, verlieren sich in der Dunkelheit. Elf Minuten Fußweg trennen mich von meiner Wohnung. Am helllichten Tag kein Problem. Doch jetzt löst der Gedanke an das letzte, besonders schlecht beleuchtete Stück ein mulmiges Gefühl in mir aus. Schon beim Warten auf die Straßenbahn kam mir ein Betrunkener zu nah, pöbelte mich mit vom Alkohol schwerer Zunge an, sodass ich mich schleunigst auf die andere Seite der Station zurückzog.

Vielleicht bin ich deshalb angespannt. Vielleicht sind es aber auch einfach die menschenleeren Straßen, die bei Nacht bedrohlicher wirken und in mir die Furcht wecken, jemand könne hinter der nächsten Ecke auf mich lauern.  Normalerweise rufe ich in solchen Momenten meinen Freund an. Doch der sitzt über seiner Hausarbeit. Also wähle ich eine andere Nummer – die des Heimwegtelefons.

Zwei Ansagen. Dann meldet sich ein Mann in der Leitung: „Hallo, hier ist Tim vom Heimwegtelefon.“ Tim merkt sofort, dass dies mein erster Anruf ist. Er erklärt mir ruhig, was passieren wird, dass er – nachdem ich ihm meinen Start und Endpunkt genannt habe – meinen Weg auf der Karte verfolgt und dass er ab und zu meinen Standort abfragen wird. Dann beginnt er mit dem, was er ohne Mühe zu beherrschen scheint und wovor es mir eigentlich graut: Smalltalk.

Er fragt nach meinem Abend. Nach dem Kinofilm, aus dem ich gerade komme. Nach dem Wochenende, das gerade hinter uns liegt. Ich antworte zögerlich. Die Situation ist seltsam. Wie redet man mit einem Fremden? Doch Tim stellt seine Fragen mit einer Selbstverständlichkeit, die mich allmählich ermutigt, Gegenfragen zu stellen. Ich erfahre Fetzen aus Tims Leben; wir unterhalten uns über libanesisches Essen. Zwischendrin fragt Tim, ob ich schon die Feuerwehrstation, die auf meinem Heimweg liegt, passiert habe.

Unsicherheitsgefühl laut Studie weit verbreitet

Ich schäme mich nicht für mein mulmiges Gefühl, das ich bei dem Gedanken an den Heimweg empfinde. Wie mir geht es vielen. Laut einer Studie des Bundeskriminalamts (BKA) von 2020 fühlt sich ein Viertel der Bevölkerung unwohl, nachts allein durch das eigene Wohnviertel zu gehen. Den öffentlichen Nahverkehr zu nutzen, behagt sogar der Hälfte nicht. Vielen Menschen hilft es in diesen Situationen, die beste Freundin, den Partner oder auch einen Elternteil anzurufen. Doch nicht immer ist jemand erreichbar. Und nicht jeder hat jemanden, der am anderen Ende auch abnimmt. Genau da setzt das Heimwegtelefon an. „Das Heimwegtelefon will für die Menschen da sein, wenn die beste Freundin gerade mal nicht telefonieren kann“, sagt Melina.

Melina ist für die Öffentlichkeitsarbeit des Heimwegtelefons zuständig und wie mein Gesprächspartner Tim ehrenamtliche Telefonistin. Unser Gespräch findet wie die Heimwegbegleitung am Telefon statt. Wie alle Telefonistinnen und Telefonisten nennt sie nur ihren Vornamen. Das diene dem Schutz der Ehrenamtlichen, der genauso wichtig wie der Datenschutz der Anrufer sei, erklärt Melina. Denn auch missbräuchliche Anrufe gehen beim Heimwegtelefon ein. Seit vier Jahren begleitet Melina Menschen auf deren Nachhausewegen.

Sie selbst sei über einen Anruf bei dem Heimwegtelefon in das Ehrenamt reingerutscht. Damals, so erinnert sie sich, sei sie nachts auf dem Heimweg von einer Party an einer Gruppe von Menschen vorbeigegangen. Sie machten ihr Angst. Also rief Melina beim Heimwegtelefon an. Eine nach ihren Worten „ganz liebe, warme und freundliche Kollegin“ habe sich gemeldet. „Ich war ganz zittrig zu Beginn des Gesprächs und am Ende haben wir zusammen gelacht“, sagt sie. Diese in ihren Worten „schöne, positive Erfahrung“ wolle sie den Anrufenden beim Heimwegtelefon zurückgeben.

Initiative aus Schweden übernommen

Gegründet wurde das Heimwegtelefon 2011 von zwei Freundinnen aus Berlin. Im Urlaub in Stockholm lernten sie die Idee des Heimwegtelefons kennen und brachten die Idee nach Deutschland. Anfangs saßen die beiden Gründerinnen zweimal je Woche am Telefon. Mediale Berichterstattung und Kooperationen mit Städten wie Kreuzlingen, Offenbach und seit November 2025 auch Frankfurt machten das Angebot breiter bekannt. Sonntags bis montags von 21 Uhr bis Mitternacht und freitags und samstags von 21 Uhr bis 3 Uhr können inzwischen Nachtschwärmer aus ganz Deutschland und dem deutschsprachigen Ausland anrufen, die auf dem Heimweg Unterstützung brauchen.

„Sich sicher zu fühlen, wenn man unterwegs ist, sollte selbstverständlich sein“, sagt Frankfurts Frauendezernentin Tina Zapf-Rodríguez (Die Grünen), die das Projekt unterstützt. Doch oft scheint genau das alles andere als selbstverständlich. Laut der BKA-Befragung von 2020 führt mangelndes Sicherheitsempfinden zu Vermeidungsverhalten. Besonders Frauen meiden bestimmte Wege und Zeiten, fahren abends seltener mit Bus und Bahn. Auch ich hätte mich an jenem Abend ohne Heimwegtelefon – oder ohne meinen Freund – wohl gegen die späte Kinovorstellung entschieden.

Die Nummer schon eingespeichert zu haben, kann die Hemmschwelle senken, den Anruf zu tätigen.
Die Nummer schon eingespeichert zu haben, kann die Hemmschwelle senken, den Anruf zu tätigen.Anjou Vartmann

Mehr als 5000 Anrufe sind beim Heimwegtelefon im Jahr 2024 eingegangen. „Die Menschen rufen aus ganz unterschiedlichen Gründen an“, sagt Melina. Manchmal sei es eine konkrete Situation, die den Anrufern Angst bereite, manchmal das Wissen, dass der Heimweg entlang schlecht beleuchteter Straßen führt. Sechzehnmal mussten die Ehrenamtlichen im vergangenen Jahr während eines Telefonats die Polizei verständigen; rund dreißig Mal schickten sie einen Rettungsdienst zum Standort der Anrufer. Meist seien das präventive Schritte. Etwa, weil ein Anrufer während des Gesprächs schon über Atemnot klagte, erklärt Melina.

26 Jahre alt ist der durchschnittliche Anrufer des Heimwegtelefons. Doch die Spannbreite sei groß, sagt Melina: Senioren, die spätabends noch mit dem Hund unterwegs seien, riefen ebenso an wie Elf- und Zwölfjährige, die auf dem Weg von einer Verabredung nach Hause seien. Nur 13 Prozent der Anrufer sind männlich. „Viele Männer sind unsicher, ob sie uns anrufen dürfen“, sagt Melina. Ihnen sei wichtig, zu betonen: „Das Heimwegtelefon ist ein Angebot für alle Menschen.“

Anrufer aus ganz Deutschland erfahren Hilfe

Etwa 100 Ehrenamtliche tragen das Angebot des Heimwegtelefons. Manche der Telefonisten sitzen in WG-Küchen, andere im von Kindern verlassenen Einfamilienhaus, einige sogar im Ausland. Denn es reichen ein Laptop, ein Telefon und eine stabile Internetverbindung. Es sei Zivilcourage aus dem Homeoffice, sagt Melina. Anrufe nehmen die Ehrenamtlichen aus ganz Deutschland entgegen, egal ob aus einer Großstadt oder einem kleinen Dorf.

Bevor sie Anrufe allein übernehmen, werden die Telefonisten intensiv geschult. Sie arbeiten sich durch Theorie und Probesituationen. Dann nehmen sie Telefonate in Begleitung erfahrener Ehrenamtlicher entgegen. Erst wenn sie eine Art Checkliste schwieriger Anrufsituationen durchgearbeitet haben, dürfen sie zum ersten Mal einen Anrufer allein durch die Nacht begleiten.

Das Ehrenamt sei vor allem bereichernd, sagt Melina. „Man kann in so viele Leben reinschnuppern.“ Die Anrufer erzählen von ihren Ausbildungen und Studiengängen, Lieblingsfilmen und Büchern. Auch zu neuen Hobbys haben sie Melina schon inspiriert – wie zum Bratschespielen oder zum Selbstverteidigungskurs.

Auch wenn sie es grundsätzlich gerne leisten würden, so können die Telefonisten nicht jeden Anrufer regelmäßig auf dessen Heimweg begleiten. Zu beachten sind laut Melina die „Fair-Use-Regeln“ des Vereins. Anrufer werden auf die Regeln zu Beginn des Telefonats in einer Ansage  hingewiesen und können diese auf der Website einsehen. Sie besagen, dass das Angebot des Heimwegtelefons nicht zur reinen Unterhaltung diene. Wer regelmäßig spätabends unterwegs sei, etwa weil er vom Training komme, dem wird empfohlen, sich langfristig um sichere Begleitung, etwa durch Fahrgemeinschaften, zu kümmern.

Wer sich auf seinem Nachhauseweg unsicher fühlt, dem stellt der Verein Tipps für den sicheren Nachhauseweg auf seiner Website zur Verfügung. Zu denen gehört etwa der Download der Nora-Notruf-App, mit der ein stiller Notruf an Polizei, Feuerwehr oder Rettungsdienst abgesetzt werden kann. Schlussendlich könnten auch sie nur ein kleines Rad im Getriebe sein, das zu einem größeren Sicherheitsempfinden beiträgt, sagt Melina.

Und genau das gelingt. Als ich an jenem Abend, an dem ich mich von Tim nach Hause begleiten lasse, meine Haustür erreiche, merke ich, wie ruhig ich innerlich bin. Das Heimwegtelefon hat mich keine Sekunde schneller, aber meine Schritte leichter gemacht.

Telefonnummer für den sicheren Heimweg

Das Heimwegtelefon ist unter der Telefonnummer 030 12 074 182 zu erreichen.
Es gelten die Telefongebühren deines Mobilfunkanbieters für einen Anruf in das deutsche Festnetz. Anrufzeiten sind Sonntag bis Donnerstag, 21 bis 24 Uhr, Freitag und Samstag 21 bis 3 Uhr.