Wie das Deutsche Archiv der Kulinarik in Dresden Geschmack bewahrt

Wie aß man am sächsischen Hof im 18. Jahrhundert? Wie schmeckte der Wildhase aus dem Burgenland nach königlicher Art aus dem 19. Jahrhundert? Was lehrt uns Kulinarik über das gesellschaftliche Leben einer Epoche?

In Dresden wird die kulinarische Erinnerung eigens katalogisiert und bewahrt. „Der Genuss eines hervorragend zubereitenden Essens ist eine flüchtige Angelegenheit“, sagt Katrin Stump, Bibliothekarin und Historikerin. „Leider haben wir historisch betrachtet kaum eine Vorstellung, wie Speisen in der Vergangenheit geschmeckt haben könnten.“ Diese Lücke füllen will das „Deutsche Archiv der Kulinarik“. Hier können Sterneköche und Foodies gleichermaßen auf kulinarische Entdeckungsreise gehen in der größten Sammlung an Kochbüchern, Rezepten, Menü-, Speise- und Weinkarten im deutschsprachigen Raum.

Highlights der Sammlung sind die Nachlässe einiger Persönlichkeiten aus der Branche: Walter Putz, nach dem Zweiten Weltkrieg aus Schlesien geflohen, arbeitete sein Leben lang als Oberkellner in führenden Grandhotels, darunter viele Jahre im Brenners Park-Hotel in Baden-Baden; er vermachte dem Archiv unter anderem Menü- und Kochbücher. Der 1935 geborene Ernst Birsner war Maître de Cuisine im Kochstudio des Burda-Verlages, Privatkoch des Ehepaars Burda und Sammler von kulinarischen Dokumenten aus Leidenschaft; seine persönliche Sammlung umfasst mehrere Zehntausend Gegenstände. Auch Herbert Schönberner, erster deutscher Dreisternekoch, hat dem Archiv bereits seinen Vorlass zugesichert.

Essenswünsche der Queen

Im Archiv finden sich auch einige Kuriositäten, darunter ein Menübuch des englischen Hofes aus dem Jahr 1970, in das Königin Elisabeth II. höchstselbst händisch Essenswünsche einfügte. Oder das Menübuch Kaiser Wilhelms II. aus seinem Exil in Doorn ebenso wie die persönliche Schreibmaschine von Wolfram Siebeck, seit den 1970ern gut drei Jahrzehnte lang der wohl bekannteste deutsche Kulinarik-Experte und -Autor.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Gegründet wurde das Archiv 2022 als Kooperation der TU Dresden und der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitäts­bibliothek (SLUB). Die sächsische Metropole als Standort ist dabei nicht zufällig gewählt: „Sachsen im Allgemeinen und Dresden im Besonderen haben seit langer Zeit eine Tradition der Kochkunst und Esskultur, die sich in der Tafelkultur des Dresdner Hofes und seiner Umgebung niederschlug“, sagt Katrin Stump, die Generaldirektorin der SLUB. Das edle Tafelporzellan aus Meißen, die filigranen Weingläser aus der Lausitz zeigen: Sachsen und Hochgenuss gehören zusammen. Mehrere historische Standardwerke der Kulinarik weisen eine Verbindung zu der Stadt an der Elbe auf: Bereits 1611 erschien mit „New Kunstreich und Nützliches Kochbuch“ eines der ersten Profikochbücher in deutscher Sprache – gedruckt in Leipzig.

Archiv soll weiterwachsen

Über 40.000 Objekte aus Menü- und Speisekartensammlungen sowie audiovisuelle Mediendateien sind inzwischen in Dresden archiviert. Stump erläutert: „Der Bestand des Archivs wird laufend erweitert und steht der Wissenschaft für die Forschung und der allgemeinen Öffentlichkeit zur Verfügung.“ Bei der Sichtung und Aufbereitung helfen Ehrenamtliche. Und das Archiv soll weiterwachsen.

Menükarten der Sammlung Birsner
Menükarten der Sammlung BirsnerSLUB Dresden, Ramona Ahlers-Bergner

So umfangreich die Sammlung auch ist: „Die Kristallisation von kulinarischen Erlebnissen als Kulturgut lässt sich nicht allein durch Rezepte oder Menükarten erlebbar machen“, sagt Ursula Staudinger, Rektorin der TU Dresden, die sich bereits kurz nach ihrem Amtsantritt 2020 für den Kulinarikstandort Dresden starkmachte. Unterstützt von dem hiesigen Historiker Josef Matzerath, entwickelte Jürgen Dollase, Deutschlands heute wohl bekanntester Gastronomiekritiker (und regelmäßig Autor der F.A.S.-Kolumne „Hier spricht der Gast“), die Idee, ein Geschmackserlebnis in Bild und Wort präzise festzuhalten.

Exzellente Kulinarik zum Nachkochen

Dollase hat bei der Bewahrung guten Geschmacks eine besondere Rolle: Er dokumentiert deutsche Spitzenküche haargenau und übergibt die entstandenen „Dokumentationen“ jährlich an das Dresdner Archiv. So soll es möglich sein, auch in Zukunft Rezepte aus dem Exzellenzbereich der Kulinarik präzise nachkochen zu können. „Während es bei anderen Kunstrichtungen selbstverständlich ist, Werke zu bewahren, hat man das bei der Kochkunst versäumt“, sagt Dollase. Ausgewählt würden die Gerichte nach ihrer kulinarischen Exzellenz. „Es gibt auch von Königsberger Klopsen und Schweinebraten sensationell gute Fassungen“, weiß er.

In aufwendigen Recherchen, Interviews und natürlich Verkostungen beleuchtet Dollase nicht nur den Kochprozess, sondern liefert auch eine kulturgeschichtliche Einordnung des Gerichts und persönliche Anekdoten der Köche. „Auf dem höchsten Kochniveau geht es um mehr, als satt zu werden, nämlich auch um die Schaffung eines ästhetischen, künstlerisch anspruchsvollen Arrangements“, ergänzt Katrin Stump.

Eigenes Vokabular entwickelt

Nicht zuletzt um die Geschmacksdokumentationen so detailreich wie möglich zu verfassen, entwickelte Dollase einen Wortschatz zur Beschreibung und Kategorisierung von Kulinarik: „Dieses Vokabular reicht von der Produktauswahl, der Produktvorbereitung bis hin zu Aromatisierung, Textur und dem assoziativen Kontext.“ So beschreibt er die Aromen des „Wildhasen aus dem Burgenland nach königlicher Art“, zubereitet von Torsten Michel, Chefkoch im Restaurant „Schwarzwaldstube“, als „Gewürzraum“, in dem sich die Aromen „tief vermischt und komplex“ bewegen. Einmal im Jahr werden die Ausgaben von „Das kulinarische Werk – Dokumentation zu Genese, Struktur und Reproduktion kulinarischer Exzellenz“ feierlich ans Archiv übergeben.

Dollase hofft, dass seine Dokumentationen einen niedrigschwelligen Zugang zu Kulinarik bieten können. Hier sieht er Nachholbedarf: „Die Vorstellung von gutem Geschmack ist uns verloren gegangen“, bemängelt er. „Wir müssen wieder lernen, zu schmecken, abseits von einem industrialisierten Geschmacksbild. Und uns fehlt die Sprache dafür. Das möchte ich ändern.“

„Mit Essen sind immer Machtfragen verbunden“

Und wie steht es eigentlich um die Kulinarik der Gegenwart? Ursula Staudinger beschreibt sie als eine widersprüchliche Verschmelzung von Globalisierung und Regionalität. Auf der einen Seite steht die Präsenz vieler Weltküchen, auf der anderen die Rückbesinnung auf Nachhaltigkeit und Regionalität. „Der Trend geht meiner Meinung nach zurück zum Produkt, weg von der Raffinesse der Zubereitung als Selbstzweck“, sagt sie. Diese Widersprüchlichkeit ist Ausdruck unserer Zeit. „Die Kochkunst unterliegt, wie andere Künste auch, einem stetigen Wandel, der von Trends, aber natürlich auch von verfügbaren Nahrungsmitteln abhängig ist.“

Doch die Beschäftigung mit Kulinarik geht über die Nahrung hinaus: Auch Fragen von Gesundheit, Schönheitsidealen und Status sind untrennbar mit Tischkultur und Ästhetik verbunden. „Wer darf zu einem Essen erscheinen, wer sitzt wo, wer bekommt welche Qualität an Speisen gereicht? Mit Essen sind auch immer Machtfragen verbunden“, sagt die Rektorin der TU.

Interdisziplinäre Kulinarikforschung

Ans Thema Essen lassen sich daher auch historische, künstlerische und soziologische Fragestellungen anschließen. Angegliedert an das Archiv ist deshalb inzwischen auch eine interdisziplinäre Forschergruppe, die sich mit dem historischen Wandel von Geschmack befasst, vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Diverse Fachbereiche sind vertreten, von der Geschichtswissenschaft über die Nahrungsmittelchemie bis hin zur Geschichte der Gartenkunst. „Wir möchten dem Thema Kulinarik zu Aufwind und zu einer Etablierung von Food Studies verhelfen“, sagt Katrin Stump.

Man wolle, so Staudinger, „die verschiedenen Dimensionen des kulinarischen Erlebnisses vermessen“, vom eigentlichen Gericht bis hin zum Geschirr und dem Ambiente. Auch das Quantifizieren von Geschmacksprofilen soll wissenschaftlich aufbereitet werden. Hierbei soll in Zukunft auch modernste Technik zum Einsatz kommen, eine Virtual-Reality-Erfahrung eines Hofdinners, welche das Eintauchen in das historische kulinarische Erlebnis ermöglicht.

Den Transfer der akademisch gewonnenen Erkenntnisse in die Gesellschaft soll das sogenannte Food Studio leisten. Hier finden Veranstaltungen, Ausstellungen und Workshops statt, und der Raum lädt zum Schmökern in den umfangreichen Sammlungen ein. Nur essen – wir befinden uns schließlich in einer Bibliothek – darf man natürlich nicht in jedem Raum.