
Landräte und Oberbürgermeister schreiben wegen der Migrationspolitik derzeit weniger Brandbriefe an den Bundeskanzler. Das liegt am spürbaren Rückgang der Asylbewerberzahlen; Grenzkontrollen, eine restriktivere Visum-Politik und Migrationsabkommen wirken.
Frank Mentrup (SPD), Präsident des baden-württembergischen Städtetags, sagt: „Eine Situation, in der wir Turnhallen belegen müssten, haben wir nicht, sie ist im Moment auch nicht zu befürchten.“ Im vergangenen Jahr sei die Aufnahme in den Landeserstaufnahmeeinrichtungen um etwa 40 Prozent zurückgegangen. Deutschlandweit sank die Zahl der Asylbewerber 2024 im Vergleich zum Vorjahr um 24 Prozent.
Wie angespannt die Lage gleichwohl ist, macht eine am Freitag vom Deutschen Städte- und Gemeindebund veröffentlichte Resolution deutlich. „Die Zuwanderung muss gesteuert, geordnet und begrenzt werden“, heißt es darin. „Es bedarf einer gemeinsamen groß angelegten Integrationsoffensive von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Die Fachkräftezuwanderung muss beschleunigt werden.“ Zudem verlangt der Verband, die Sozialausgaben zu begrenzen und eine finanzielle Ausstattung der Gemeinden, die Investitionen ermöglicht. Aus einer akuten Überforderung ist eine strukturelle Krise geworden.
Zu dieser Analyse passt der Lagebericht von Uli Burchardt (CDU). Der Oberbürgermeister von Konstanz im Süden der Republik zählt – passend zur Mentalität der Universitätsstadt am Bodensee – eher zu den Verfechtern schwarz-grüner Koalitionen. „Wenn wir heute spontan 1000 Menschen, die aus großer Not geflüchtet sind, warm unterbringen und medizinisch versorgen müssten“, sagt er, „dann können wir das selbstverständlich leisten. Wenn es aber darum geht, Leute vernünftig und dauerhaft unterzubringen und zu integrieren, dann gelingt uns das schon lange nicht mehr, vor allem weil der Wohnraum dafür fehlt.“
Es fehlt an Geld
Den Kommunen fehlten Milliarden für den sozialen Wohnungsbau, das sei eine Herausforderung, die eine neue Bundesregierung dringend bewältigen müsse. „Das Wohnungsproblem ist ein großer Spaltpilz in der Gesellschaft, es findet ja in Konstanz, Stuttgart oder München weder ein Busfahrer noch eine Krankenschwester heute eine bezahlbare Wohnung.“
Daher komme viel Frust in der Gesellschaft, die Menschen gingen täglich arbeiten und leisteten ihren Beitrag zur Gesellschaft, „aber sie bekommen im Gegenzug nicht mal eine Wohnung für sich und ihre Familie“, sagt Burchardt. Wenn die Bürger dann das Gefühl hätten, die Flüchtlinge würden bei der Wohnungsvergabe auch noch bevorzugt, dann könne Integration nicht funktionieren. Man müsse deutlich mehr bauen, doch den Kommunen fehlten Milliarden für den Wohnungsbau. „Das muss sich ändern. Und zwar schnell, bevor die Baubranche zusammenbricht wie die Gastronomie während der Corona.“
Burchardt sagt, er habe die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel vor zehn Jahren für richtig gehalten, es sei in Deutschland aber nicht gelungen, die richtigen Strukturen zur Bewältigung der Einwanderung aufzubauen. Der Staat schaffe es zehn Jahre später immer noch nicht, nur die Geflüchteten in die Städte und Gemeinden zu verteilen, die auch eine Perspektive hätten, zu bleiben. Burchardt erzählt, immer wieder beklagten sich Handwerksmeister oder Gastronomen bei ihm über Abschiebungen ihrer Mitarbeiter.
„Wir schieben also Leute ab, die schon ein gutes Stück integriert gewesen sind. Und andererseits schaffen wir es nicht, Leute abzuschieben, die längst weg sein müssten.“ Auch bei der Integration erkennt er Defizite: „Gefühlt ist die eine Hälfte der Geflüchteten gut integriert. Da gibt es tolle Erfolgsgeschichten.“ Bei anderen gebe es Probleme, „weil sie nicht arbeiten wollen, weil ihnen der Wille zur Anstrengung fehlt oder weil es soziale oder psychische Probleme gibt. Oder weil sie nicht arbeiten dürfen, sondern in der Bürokratie feststecken.“ Die Migrationswende trage er mit.
Runde Tische statt Zusammenarbeit mit der AfD
Ein anderer Anhänger der merkelschen Flüchtlingspolitik ist Stephan Neher (CDU), seit 2008 Oberbürgermeister von Rottenburg. „Wir nehmen mehr Flüchtlinge auf, als wir nach dem Verteilschlüssel eigentlich aufnehmen müssten, wir können sogar Wohnungen abstoßen, weil wir eine kommunale Wohnungsunterkunft mit 49 Plätzen neu gebaut haben und wir uns in den 17 Ortschaften um eine dezentrale Unterbringung bemühen“, sagt Neher.
In Rottenburg, einer Bischofsstadt südlich von Tübingen mit knapp 45.000 Einwohnern, leben derzeit 1800 Geflüchtete, die Hälfte kam aus der Ukraine. Nach Nehers Schätzung nahm seine Stadtverwaltung etwa 250 ukrainische Kriegsflüchtlinge mehr auf, als sie gemusst hätte. „Es gibt zwei Dinge, die wichtig sind: Man muss die Wohnsituation managen, und man muss sehen, dass man traumatisierte Flüchtlinge rechtzeitig erkennt und Straftäter in Gewahrsam nimmt.“
Die Kommunen müssten bei der Flüchtlingsaufnahme schneller „die Spreu vom Weizen“ trennen, häufig wüssten die Mitarbeiter der Stadt nicht rechtzeitig von psychischen Problemen; bei Daten- und Patientenschutz brauche es gesetzliche Veränderungen. Ähnlich wie es Runde Tische gebe, um sexuellen Missbrauch zu erkennen, müssten die Ordnungsämter, Polizei und Integrationsmanager auch solche Besprechungen organisieren, damit man sich gegenseitig über die Probleme der Flüchtlinge informiere.
Neher ist überzeugt, dass die Migrationsprobleme nur durch Kompromisse der demokratischen Parteien gelöst werden könnten. „Ich bin auch Fraktionsvorsitzender im Kreistag. Wenn ich im Vorfeld sehe, dass es nur mithilfe der AfD geht, dann lehne ich das ab, weil das für mich dann schon eine Zusammenarbeit ist“, sagt Neher. Angesichts der guten Situation in Rottenburg brauche er keine Migrationswende.
Auch Thomas Kufen, der Oberbürgermeister von Essen, ist für seine scharfe Abgrenzung zur AfD bekannt. Der CDU-Politiker, der auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 erstmals zum Oberhaupt der Kommune mit mehr als 590.000 Einwohnern im Zentrum des Ruhrgebiets gewählt wurde, gilt als Vertreter des bis in das grüne Milieu anschlussfähigen Großstadt-Flügels seiner Partei.
Von 2005 bis 2010 war er Integrationsbeauftragter der nordrhein-westfälischen Landesregierung. Kufen hat einen nüchtern-realistischen Blick auf die Chancen und Grenzen der Migration. Im seit mehreren Generationen von Zuwanderung geprägten Essen gibt es viele Aufstiegsgeschichten, zugleich gibt es – Stichwort Familienclans – aber auch gescheiterte Integration und Ansätze von Parallelgesellschaften.
Essener OB für Verschärfungen im Bund
Kufen fiel nie als in der Wolle gefärbter Merkelianer auf – im Gegenteil. Gegen die Linie Merkels beharrte Kufen ausdrücklich auf einer Obergrenze und warnte früh und in deutlichen Worten vor einer dauerhaften Überforderung der Städte. „Selbst in einer so weltoffenen und toleranten Stadt wie Essen gibt es eine Grenze der Aufnahmefähigkeit, die man nicht austesten sollte“, sagte Kufen auch 2019 im Interview mit der F.A.Z., als er Mitglied des „Werkstattgesprächs“ war, mit dem die damalige CDU-Bundesvorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer die Migrationspolitik der vergangenen Jahre aufarbeitete. Schon unter Kramp-Karrenbauer lautete die CDU-Linie: Als „Ultima Ratio“ kommen Grenzschließungen in Betracht. Kufen schloss sich dem ausdrücklich an.
Fragt man Kufen, wie er vor dem Hintergrund der Essener Erfahrungen in den vergangenen Jahren auf das Vorgehen von CDU-Chef Friedrich Merz in der Migrationspolitik blickt, verweist er darauf, dass Städte und Gemeinden schon lange vom Bund fordern, mehr gegen illegale Einwanderung zu tun. „Die in den vergangenen Jahren vom Bund ergriffenen Maßnahmen reichen nicht aus“, sagt Kufen.
Immer noch seien die Grenzen nicht ausreichend geschützt, immer noch dauerten die Asylverfahren zu lange, immer noch bekämen die Kommunen auch Flüchtlinge ohne echte Bleibeperspektive zugewiesen. „Die notwendige Diskussion über weitere Änderungen dem ganz rechten Rand zu überlassen, halte ich für falsch“, sagt er.
Das sieht auch Olaf Gericke so, der Landrat des Kreises Warendorf im Münsterland. „Die Bevölkerung möchte einfach nur, dass die Probleme endlich gelöst werden. Tabubruch-Debatten und die Nazikeule helfen uns in der kommunalen Familie nicht und bringen uns keinen Zentimeter voran“, sagt der CDU-Politiker, der derzeit Präsident des NRW-Landkreistags ist. „Auch alle meine Kollegen, ob Bürgermeister, Oberbürgermeister oder Landräte, wollen parteiübergreifend nur, dass die Probleme gelöst werden.“
Seit vielen Jahren schon gebe es eine „klare Überforderung der kommunalen Familie“. Noch immer bekämen die Kommunen ihre flüchtlingsbedingten Mehrkosten von Bund und Ländern nicht ausgeglichen. „2023 betrug der Fehlbetrag im Kreis Warendorf noch neun Millionen Euro, im Jahr 2024 dann 18 Millionen. Bei einem Haushaltsvolumen von 600 Millionen ist das für einen Kreis mit 280.000 Einwohnern kein Pappenstiel.“ Auch in seinem ländlich geprägten Kreis herrsche ein eklatanter Mangel an Wohnraum.
Als größtes migrationspolitisches Problem sieht Gericke die Überlastung der Schulen: „Wir haben so viele Kinder ohne Deutschkenntnisse, die kontinuierlich ins Regelschulsystem gebracht werden.“ Vor allem in den Grundschulen seien Lehrer längst am Limit. „Es kommen schon zu lange zu viele Flüchtlinge.
Und es kommen vor allem auch zu viele, die kein Bleiberecht haben und die wir trotzdem nicht zurückführen können, da das Dublin-System dysfunktional ist“, sagt er. „Weil Abschiebungen keine Lösung sind, müssen wir also dafür sorgen, dass nicht mehr so viele zu uns kommen.“