Widerstand in Israel: „Das könnten unsere Kinder sein“

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sieht sich auch im Ausland wachsenden Protesten gegen seinen Krieg in Gaza ausgesetzt. Nachdem er am 18. März den Waffenstillstand gebrochen und einen neuen Angriff auf den Gazastreifen gestartet hatte, gründeten einige Frauen die „Aktion für Kinder“.

Gemeinsam mit Amit Shiloh, Alma Beck und Danielle Cantor ergriff Neora Shem, 71, die Initia­tive zu einem stillen Protest gegen die Tötung palästinensischer Kinder. Inzwischen nehmen jede Woche Hunderte an den stillen Mahnwachen in Tel Aviv teil. Die Bewegung hat ähnliche Mahnwachen im Ausland inspiriert, unter anderem in New York, London und Wien.

taz: Frau Shem, der Gedanke, dass Kinder „gewaltsam involviert“ werden, steht im Mittelpunkt Ihrer Botschaft. Warum?

Neora Shem: Das israelische Militär und die Medien bezeichnen die Opfer oft als „unbeteiligt“, das bedeutet, dass die Kinder und andere Zivilisten, die sterben, sich nicht aussuchen können, ob sie beteiligt sind oder nicht. Aber ihr Tod betrifft sie! Dies stellt die in den israelischen Medien so oft verwendete Rhetorik der Unterteilung in Kämpfer und Unbeteiligte infrage. Wenn ein Kind stirbt, wird es involviert, weil wir es involviert haben. Ein Kind ist ein Kind ist ein Kind.

Im Interview: Neora Shem

Neora Shem ist eine israelische Autorin, Journalistin, Künstlerin und Softwareentwicklerin, die als Pionierin der Internetkultur und der Open-Source-Bewegung in Israel gilt. Ihr 1993 erschienenes Buch „Digital Affair” gilt als erster Cyberpunk-Roman in hebräischer Sprache.

taz: Wann hat Ihr Protest begonnen?

Shem: Wir wachten Mitte März mit der schrecklichen Nachricht auf, dass in der Nacht zuvor über 100 Kinder in Gaza getötet worden waren. Wir vier – Amit, Alma, Danielle und ich – waren am Boden zerstört. Wir konnten nicht aufhören zu weinen. Wir hatten das Gefühl, dass wir etwas tun müssen. Auch wir, die israelischen Juden, sind gegen diesen Terror und diese Unterdrückung. Das ist wichtig. Die Erinnerung an die Shoah ist für uns lebendig, und „Nie wieder“ bedeutet auch „Nie wieder“ für die Palästinenser.

taz: Was haben Sie dann gemacht?

Shem: Wir druckten die Fotos der toten Kinder aus, die von The Daily Page stammten, einer von Adi Argov betriebenen Website, die seit über vier Jahren den Tod von Kindern im israelisch-palästinensischen Konflikt dokumentiert. Wir benutzten unsere eigenen Drucker und standen am nächsten Tag schweigend da, mit den Bildern und Kerzen in der Hand.

Keine Megaphone, keine Sprechchöre, keine Schilder, keine Slogans, keine Fahnen, keine politischen Parteien. Nur unsere schweigenden Körper. Wir kamen in Trauer zusammen. Die Demonstranten tragen schlichte Kleidung, halten Bilder von getöteten Kindern in der Hand und zünden Gedenkkerzen an. Die Einfachheit ist der Schlüssel.

taz: Wie reagieren die Menschen auf das, was Sie tun?

Shem: Am Anfang hatten wir natürlich Angst. Als Israeli, als Jude und als Gegner des Krieges in der Öffentlichkeit fühlt es sich gefährlich an. Aber anfangs hat uns niemand deswegen angegriffen. Als wir mehr wurden, kam es allerdings immer wieder zu Konfrontationen mit Passanten. Inzwischen haben wir einige junge Frauen dafür eigens abgestellt, die ein Training hinter sich haben.

Sie nehmen die Leute beiseite und versuchen, die Situation zu deeskalieren. Im Großen und Ganzen aber verstehen uns die Menschen instinktiv. Manche stehen mit uns und weinen. Andere stellen Kerzen ab. Viele stehen einfach nur da und legen ihre Hände aufs Herz. Die Stille verweigert die Gewalt der Sprache, sie gibt der Trauer Raum. Ohne Slogans sehen die Menschen, worauf es ankommt: Die Gesichter der Kinder, die unsere sein könnten. Schweigen entwaffnet die Wut.

taz: Was wollen Sie erreichen?

Shem: Die Stille lädt die Menschen dazu ein, die Gesichter dieser Kinder zu sehen, die leicht unsere Kinder sein könnten. Sie könnten Juden sein, sie könnten Israelis sein. Wir glauben, dass kein Kind geopfert werden sollte. Die Menschen verstehen unsere Kernbotschaft intuitiv: Dieser Krieg muss aufhören. Wir haben gesehen, wohin er führt. Jede Woche kommen Hunderte von neuen Leuten zu uns. Sie haben es verstanden.

Wir haben das Gefühl, dass diese Aktion die öffentliche Wahrnehmung verändert, wenn auch nur geringfügig. Das sieht man an Onlinediskussionen, an Facebook-Posts und daran, wie die Menschen auf der Straße auf uns reagieren. Kürzlich sagte Yair Golan, ein linker Politiker, Parteivorsitzender der Demokraten, öffentlich: „Diese Regierung ist illegitim – sie tötet Kinder.“

Der Staat töte Kinder als Hobby. Nun, diese Formulierung „als Hobby“ war für einige offensichtlich zu viel. Später stellte Golan klar, dass er die Regierung und nicht die Armee meinte. Aber der Punkt war gemacht. Die Menschen fangen an, Dinge laut auszusprechen, die früher undenkbar gewesen wären.

taz: Glauben Sie, dass sich die Stimmung in Israel gerade zum Besseren ändert?

Shem: Es wird schlimmer. Die derzeitige Atmosphäre wird von Netanjahu und seinen Propagandisten aktiv aufrechterhalten und kultiviert. Es wird bewusst versucht, die Anderen zu entmenschlichen, also Palästinenser, Kriegsgegner und sogar befreite Geiseln, um die Menschen in diesem Land zu radikalisieren. Sie sollen in mörderische Nationalisten verwandelt werden. Leider funktioniert das.

Nehmen wir den Vorfall in Ra’anana: Eine Gruppe von Nationalisten störte mit Gewalt eine Veranstaltung in einer Synagoge und griff sogar ältere Frauen an. Man stelle sich einen solchen Angriff auf eine Synagoge in Europa vor! Die gewalttätigen Angreifer wurden nach fünf Minuten wieder freigelassen. Währenddessen wurden Demonstranten von Standing Together, die an einem Freitag nach Gaza marschieren wollten, vier Tage lang inhaftiert.

Ein weiteres Beispiel: Meine Schwägerin veröffentlichte eine Kritik am israelischen Eurovisionssong, indem sie den Text umschrieb und sagte „Die Sonne wird nicht aufgehen, weil sie vom Rauch verdeckt ist.“ Sie wurde so heftig bedroht, dass sie ihr Instagram abschalten musste. Sie versteckte sich in ihrer Wohnung. Die Leute haben ihr buchstäblich gedroht, sie umzubringen.

taz: Erwarten Sie, dass Ihre Proteste in Europa oder den USA Auswirkungen haben?

Shem: Wir hoffen, dass die Menschen in Europa, wenn sie propalästinensische Proteste sehen, auch erkennen, dass es israelische Juden gibt, die gegen den Krieg sind. Nicht nur die Palästinenser, auch wir Israelis sind gegen diesen Terror und diese Unterdrückung. Die Europäer müssen verstehen, dass es eine andere Seite Israels gibt, nicht nur die der Armee oder der Siedler oder der Regierung Netanjahu.

taz: Was sollen die Menschen in Europa oder den USA Ihrer Meinung nach tun?

Shem: Verweigerung kann viele Formen annehmen. Zum Beispiel müssen europäische Unternehmen keine Ausrüstung an das israelische Militär verkaufen. Künstler können ihre Stimme erheben. Die Wähler können Maßnahmen fordern. Die Leute können auf so vielfältige Art und Weise Druck ausüben.

Ein Beispiel aus jüngster Zeit: Während einer Microsoft-Konferenz stand jemand auf und sagte: „Sie unterstützen einen Völkermord.“ Diese Person wurde gefeuert. Alles ging einfach weiter. Wir müssen also aufhören, Microsoft zu kaufen. Ein Beispiel dafür ist, wie Ben & Jerry’s angefangen haben, israelische Siedlungen im Westjordanland zu boykottieren, und das mit der Forderung verbunden haben, die Ungerechtigkeit gegenüber den Palästinensern müsse aufhören.

Es geht darum, die Komplizenschaft zu bekämpfen. Ich erinnere mich an den weltweiten Druck auf das Südafrika der Apartheid – diese Art des internationalen Widerstands hat funktioniert. Ich erwarte hier etwas Ähnliches.

taz: Ähnelt Ihr Protest dem Anti-Apartheid-Kampf?

Shem: Ich würde das gern glauben. Ich wünschte, sie wäre so stark. Aber es gibt einen großen Unterschied: Die globale Reichweite der politischen, militärischen und finanziellen Macht Israels ist heute viel stärker ausgeprägt als die der südafrikanischen Regierung zu Zeiten der Apartheid. Und der Begriff „Jude“ ist auf schreckliche Weise entstellt worden. Wenn man heute von Juden spricht, meint man oft diejenigen, die Netanjahu unterstützen. Das ist nicht das Judentum. Das ist nicht das jüdische Volk. Das ist eine gefährliche Verquickung von religiöser Identität und Recht­sextremismus.